Einer für alle, alle für einen.

Zum von der UN 2012 ausgerufenen internationalen Jahr der Genossenschaften und zum 20. Geburtstag der taz-Genossenschaft im kommenden April ist soeben das Buch “Gewinn für alle – Genossenschaften als Wirtschaftsmodell der Zukunft” erschienen. Neben dem aktuellen Boom an neuen Genossenschaften beleuchtet der von Konny Gellenbeck herausgegebene Band auch die Geschichte der solidarischen Ökonomie und die Zukunft des genossenschaftlichen Gedankens im Internet (Social Web) und für die Verwaltung von Gemeingütern (Commons).  Eine Sonderausgabe des Buchs ist ab sofort  im taz-Shop erhätlich. Ich habe als Redakteur und Autor  daran  mitgearbeitet und hier unlängst schon einen der frühen Pioniere des Genossenschaftsgedankens, Pjotr Kropotkin, vorgestellt. Heute ein weiterer kleiner Auszug – über  Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch:

»Man nennt die Vereine nach meinem Namen. Ich habe dieselben indes nicht erfunden. Der erste Verein war ein Kind unse- rer Zeit, aus der Not geboren. Ich habe nur die Patenstelle dabei übernommen«, hatte Friedrich Wilhelm Raiffeisen einst festgehalten, ganz in der pflichtbewussten Bescheidenheit eines preußischen Beamten und Christenmenschen. Doch seine Schrift „Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung, sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter“, 1866 in Neuwied erschienen, war die Initialzündung für mittlerweile mehr als 330000 Genossen-schaftsbanken in aller Welt – und machte Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) zu dem heute international bekanntesten Pionier des Genossenschaftswesens. Als Kommunalbeamter und Bürgermeister in einer verarmten Landregion des Westerwalds gründete er 1847 einen »Brotverein« zur Bekämpfung der Hungersnot und einen »Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte«, um die Bauern unabhängig von den Krediten von »Wucherern« zu machen. Sie sparten ihr Geld gemeinsam und konnten es sich im Bedarfsfall zu günstigen Konditionen ausleihen. Raiffeisens Projekte waren zu Anfang über Spenden finanziert, aus seinem christlichen Menschenbild heraus appellierte er an die Nächstenliebe vor allem der Reichen, was aber nur kurze Zeit erfolgreich war.
Auf Wohltätigkeit aber ließ sich auf Dauer nicht bauen, so dass Raiffeisen in seinem Buch von 1866 im Vorwort feststellte: »Die hier vorgeschlagenen Vereine gründen sich auf die unbedingteste Selbsthilfe. Letztere bewirkt die Entfaltung sowie die möglichst ausgedehnte Anwendung und Nutzbarmachung der Kräfte der Bevölkerung und des Bodens.« Aus diesen Anfängen wuchsen die Universalgenossenschaften in ländlichen Regionen, die bis heute als Raiffeisen-Organisationen bekannt sind und Landwirte außer mit Betriebskapital auch mit Saatgut, Düngemitteln und Maschinen ausstatten. In über hundert Ländern arbeiten mehr als 900000 Genossenschaften mit über 500 Millionen Mitgliedern nach Raiffeisenprinzipien, auch wenn die strengen Regeln des Gründers längst nicht mehr überall eingehalten werden.
So sah Raiffeisen ehrenamtliche, unentgeltliche Arbeit für die Genossenschaft als unabdingbar an, nur der Geschäftsführer sollte bezahlt werden, und Gewinne sollten grundsätzlich in das unteilbare Gesamtvermögen der Genossenschaft eingehen. Die Auszahlung einer Dividende lehnte er ab, ebenso wie überregionale Großgenossenschaften. In der lokalen Begrenzung – eine Gemeinde = eine Pfarrei = eine Genossenschaft – sah Raiffeisen ein wichtiges Grundprinzip: Wo jeder jeden kennt, kann die Bonität eines Kreditnehmers optimal eingeschätzt werden, das Ausfallrisiko und damit die Kosten des Bankgeschäfts sind gering, die Konditionen deshalb für alle Mitglieder günstig.
»Eine eigene Bank ins Leben zu rufen, … um die aus dem Bankverkehr entspringenden Vorteile den Vereinen selbst zu- zuwenden und für diese die ganze Einrichtung so zu treffen, dass sie den Bedürfnissen derselben entspricht«, dieser Plan Raiffeisens ging nicht nur auf, er ist im Zuge der Bankenkrise in jüngster Zeit und angesichts der Scharen neuer Kunden bei Genossenschafts- und Raiffeisenbanken auch nach 150 Jahren wieder höchst aktuell geworden.

»Nur die Selbsthilfe aus eigener Kraft und eigener Verantwortung ist die Grundlage einer gesunden Entwicklung«

Wie viele große Erfindungen unabhängig voneinander zur gleichen Zeit gemacht wurden, hatte auch das Wirtschaftsprinzip der Genossenschaften und Genossenschaftsbanken zwei große Entdecker und Pioniere, die zeitgleich, aber ohne direken Kontakt ihre Systeme entwickelten: der eine, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, als christlicher Landbürgermeister aus dem Motiv der Nächstenliebe, der andere, Hermann Schulze-Delitzsch (1808 – 1883), als liberaler Politiker und Jurist mit Blick auf eine soziale Marktwirtschaft.
Als Richter hatte er die Not der kleinen Handwerksbetriebe in der Region kennengelernt und 1849 in seinem sächsischen Heimatort Delitzsch eine Einkaufsgenossenschaft für Schuhmacherbetriebe ins Leben gerufen. Bald darauf entwickelte er die ersten Vorschuss- und Kreditvereine, um Kapital für Investitionen und den Aufbau von Vertriebs- und Produktionsgenos- senschaften zu beschaffen. Als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses und später des Reichstags setzte er 1867 das erste deutsche Genossenschaftsgesetz durch, mit dem Genossenschaften ihre gesetzliche Basis und Rechtsfähigkeit als ju- ristische Person erhielten und das zum Vorbild für ähnliche Gesetze in zahlreichen Ländern der Welt wurde.
Anders als Raiffeisens Modell, das an der Landbevölkerung und ihren Bedürfnissen ausgerichtet war, richtete sich Schulze- Delitzsch eher an kleine und mittlere Gewerbetreibende, deren Existenz durch die beginnende industrielle Massenproduktion bedroht war. Er appellierte weniger an Gemeinsinn und Nächstenliebe, sondern an Eigennutz und Selbsthilfe durch Koopera- tion. Während Raiffeisen seine Genossenschaften durchaus auch als moralische Anstalt zur Förderung des Gemeinsinns der Mitglieder und der christlichen Ideale betrachtete, hatte für Schulze-Delitzsch das individuelle Erwerbsstreben Vorrang vor gemeinnützigem Handeln. Mit seiner strikten Ablehnung staatlicher Einmischung ebenso wie von Wohltätigkeit und seinem entschiedenen Eintreten für autonome Selbsthilfe und Selbstverantwortung vertrat er nicht nur ein anderes Wertekonzept als Raiffeisen, sondern stand auch in Opposition zu Genossenschaftstheoretikern wie Ferdinand Lassalle, Karl Marx, Friedrich Engels und auf der anderen Seite Otto von Bismarck. Genossenschaftsgründungen »von oben« – gleich ob sie nun vom Reichskanzler Bismarck oder vom Sozialdemokraten Lassalle propagiert wurden – widersprachen für Schulze-Delitzsch dem Selbsthilfe- und Selbstverantwortungsgedanken und damit dem Grundprinzip der Genossenschaften:

»Almosen erschlaffen, korrumpieren den Empfänger, lähmen Unternehmensgeist und Ver- antwortungssinn; öffentliche Subventionen bedeuten überdies stets den unredlichen Griff in die Taschen anderer; nur die Selbsthilfe aus eigener Kraft und eigener Verantwortung ist die Grundlage einer gesunden Entwicklung.«

Der Staat hatte in Schulze-Delitzschs Vorstellung nur die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, nicht aber selbst zum obersten Genossenschaftler zu werden. Die »Gleichschaltung« der Genossenschaften durch die Nazis ebenso wie die Zwangskollektivierungen in den sozialistischen Ländern haben die Richtigkeit dieses libertären Gebots der Staatsferne später deutlich herausgestellt. Dafür musste sich Schulze-Delitzsch von Lassalle, seinem Gegner im »Systemstreit« um das Genossenschaftswesen, zwar als »Manchester-Mann« beschimpfen lassen – und von Marx und Engels als »Sparkassenmännchen« –, tatsächlich war er aber als fortschrittlicher Demokrat und liberaler Sozialreformer alles andere als ein Vertreter des Raubtierkapitalismus. Dass es allerdings durch die heraufziehende Industrialisierung für einige Schichten der Bevölkerung schwierig oder unmöglich wurde, sich mit Selbsthilfe über Wasser zu halten, und sich Schulze-Delitzschs dogmatische Ablehnung staatlicher oder wohltätiger Hilfe als obsolet erwies, dieser mit harten Bandagen geführte Systemstreit ist heute weitgehend nivelliert. Der von Raiffeisen geprägte Begriff »Hilfe zur Selbsthilfe« ist ebenso selbstverständlich wie die von Hermann Schulze-Delitzsch erfundenen Mikrokredite an Gewerbetreibende: Ihre Wiederentdeckung in Asien wurde 2006 mit dem Friedenobelpreis ausgezeichnet.

Konny Gellenbeck (Hrsg.) “Gewinn für alle – Genossenschaften als Wirtschaftsmodell der Zukunft” – mit Beiträgen von Mathias Bröckers, Imma Harms, Silke Helfrich, Helmut Höge, Aline Lüllmann, Arndt Neumann, Jacques Paysan, Michael Sontheimer und Andreas Wieg.
250 Seiten, Sonderausgabe zum Sonderpreis von 8,50 Euro (statt 12,99 Euro) exklusiv im taz-Shop

1 Comment

  1. Früher war alles besser!

    und wie kommst du auf die Idee, dass NeoCons die Lösung sind???? liberaler Sozialreformer ?!?!?

    hallo? Wink mit Zaumpfahl? oder was soll das sein.

    auf einmal ist liberales Denken in deiner kleinen Weltvorstellung OK? Liberal? das jeder genung Grips hat, das richtige zu tun???

    ist das sicher deine Meinung??? hast du dir mal die Postings deiner Kommentatoren durchgelesen?

    die Grundsubstand von Liberalität ist Bildung. nur schlaue Leute können gleichberechtigt miteinander umgehen. Aber das die Mehrheit nun mal sträflich dumm ist, hast du doch am besten bewiesen. Mit euch kann man leider nicht reden.

    Liberal. als nächstes findet er die FDP in Ordnung….. ich check hier gar nichts mehr, außer das sich Bröckers mitlerweile in einem Satz mit 3 Wörtern 5 mal wiederspricht.

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