Vom Nachtisch geträumt

9305Mein langjähriger taz-Kollege Arno Widmann ist 70 Jahre alt geworden und im “Perlentaucher”  haben ihm viele Freunde und Kolleginnen gratuliert. Den schönsten Geburtstagsartikel hat Gabriele Goettle geschrieben, denn sie hat an die “Dichtertaz” im Jahr 1987 erinnert, die  für Arno (und auch für mich) wohl die drei tollsten Arbeitstage darstellten, die wir je in einer Redaktion verbrachten. Er ging später zur “Vogue”, dann zur “Zeit” und zur “Frankfurter Rundschau” und schreibt jetzt seit vielen Jahren im Wochenend-Feuilleton der “Berliner Zeitung”,  ich arbeitete für “Die Woche”, die “Zeit” und viele Radio-Redaktionen, doch so ein Ding wie diese “Dichtertaz” hat keiner von uns je wieder gedreht. Arno war bei der taz damals für das “Magazin” zuständig, schrieb regelmäßig Buch-Rezensionen unter dem Titel “Vom Nachttisch geräumt” und träumte als Nichttrinker, Nichtraucher und Süßigkeiten-Freak vom Nachtisch; ich betreute die “Kultur” und wie jedes Jahr stand zur Buchmesse eine Sonderausgabe an: Besprechungen, Vorabdrucke, Essays zu den Neuerscheinungen des “Bücherherrrbsts” (M.Reich-Ranicki). Feuilleton-Business as usual eben, aber nicht in diesem Jahr, denn wir hatten eine Idee: wir verlegen die Buchmesse in die taz-Redaktion und lassen die Literaten drei Tage die Zeitung machen. Arno fuhr mit Garbiele Goettle zu ihrem guten Freund Hans Magnus Enzensberger nach München: wenn wir diesen “Dichterfürst” für die Idee gewinnen, war die Überlegung, machen alle anderen auch mit. Und so kam es dann auch: für  drei Tage konnten wir die Creme der deutschen und europäischen Literatur, darunter zwei spätere Nobelpreisträgerinnen, in  unserer abgerockten Fabriketage im Berliner Wedding versammeln und ins kalte Wasser der Tageszeitungsproduktion werfen. Außer der Technik waren von der Redaktion nur Arno und ich anwesend, um dieses Freischwimmexperiment der Feingeister  zu koordinieren. Wie wir das damals machten, hatte ich nach fast 30 Jahren fast schon wieder vergessen. Und als ich es jetzt in Gabrieles Erinnerungen wieder las, wünsche ich mir diese großartigen Tage noch einmal zurück, und auch die taz, die wir damals  jeden Tag machten – den freien Geist, das wilde Denken, die Lust am Widerspruch und den Mut zum Eigensinn. Denn es kann ja wohl nicht sein, dass diese Qualitäten nur noch ein paar alten Herren obliegen – und die Jungen machen einfach nur  noch “irgendwas mit Medien”….

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