Sueddeutsche Zeitung,  31.01.2004


Ballistik

Sieht aus wie der Dax, heißt aber Bux: Die Bundesliga im Blick einer Tippgemeinschaft

Von Lothar Müller

 

 

Zugegeben: Manchmal beneiden wir die Toto-Wetter, die jede Woche die „1“ für den Sieg der Heimmannschaft, die „2“ für den Sieg der Auswärtsmannschaft oder die „0“ für ein Unentschieden hinter die Paarungen des nächsten Spieltages setzen. Wir beneiden sie nicht so sehr, wenn sie am Montag einen kleinen oder großen Gewinn einstreichen. Denn auch wir haben unsere – wenn auch bescheidenen – Gewinne. Wir beneiden sie vielmehr um den Moment, in dem sie einen Tippzettel voller Fehlprognosen zerknüllen. Wir beneiden sie um die wöchentliche Löschung ihrer Irrtümer. Wir beneiden sie um das vom Scheitern der Vorwoche unbelastete, hoffnungsfrohe Ausfüllen des Toto-Scheines für den nächsten Spieltag.
 

Denn wir können unsere Fehlprognosen nicht löschen. Wir schleppen unsere Irrtümer durch die Saison. Unsere „Große Bundesliga-Wette zur Ermittlung des wahren Fußball-Sachverstandes“ ( BuLiWe) ist eine Langzeitwette. Wir tippen vor Beginn jeder Saison die Gesamttabelle des letzten, des 34. Spieltages. Wir legen uns auf alles fest: Wer Meister wird, wer die Champions League belegt, wer absteigt, wer Neunter, wer Elfter wird. Groß und voller Tücke im Detail ist die Last der Entscheidung, die bis zum Stichtag der Wettabgabe auf uns liegt. Übertroffen wird sie nur von der Last der getroffenen Entscheidungen, wenn die Saison begonnen hat.
 

Voraussagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Den Toto-Wetter trifft die Wahrheit dieses Satzes nur in geringer Dosierung. Uns trifft sie mit voller Wucht. Und doch werden die Stoßseufzer, mit denen wir gelegentlich auf die kleinteiligen Toto-Tipper blicken, mehr als aufgewogen durch unseren Stolz auf die monumentale Schönheit unserer Langzeitwette und ihres labyrinthischen Regelwerks. Denn was ist die Last der Monumentalisierung des Irrtums, die sie uns auferlegt, gegen das Ausmaß des Triumphes, der am Ende der Saison den Sieger erfasst?
 

Wenn wir unsere Prognosen abgegeben haben, verstauen wir unsere Tabellen nicht in der Schublade, um sie erst am Saisonende wieder hervorzuziehen. O nein. Wir schauen auf die Bundesliga wie auf ein Pferderennen. Nach jedem Spieltag notieren wir den Zwischenstand. Sorgfältig vergleichen wir die reale Bundesligatabelle mit unseren getippten Tabellen und erreichen daraus unseren eigenen Tabellenstand innerhalb der Wettgemeinschaft. Das ist natürlich, streng logisch gesehen, bei einer Langzeitwette Unsinn. Wir sind aber nicht streng logisch, wir sind keine Puristen. Wir wollen unseren Spaß. Wir machen es wie das Fernsehen. Wir bewirtschaften die Bundesligatabelle zu Unterhaltungszwecken. Wir lassen uns aber nicht von Reinhold Beckmann oder Gerhard Delling vorschreiben, wie wir das machen. Unsere große „BuLiWe“ ist unsere kleine Unterhaltungsindustrie. In Jahren der allmählichen Verfertigung der Wettregeln während des Wettens ist unser Punktesystem entstanden. Nun trägt es in mathematischer Eleganz zwei verschiedenen Prinzipien zugleich Rechnung. Auf der einen Seite bewertet es die Fehlermargen, die negativen Abweichungen. Wer Kaiserslautern auf Platz 12 gesetzt hat, erhält, wenn Kaiserslautern auf Platz 15 oder 9 landet, drei Minuspunkte. Dieses Bewertungssystem, sagt Dr. S., unser Spin-Doktor und Spieltheoretiker, ist analog und träge. Kleine Unterschiede in der Bundesligatabelle führen zu kleinen Unterschieden in unserer Wetttabelle. Große Unterschiede führen zu großen Unterschieden. Es geht auf dieser Bilanzseite zu wie in einer Bürokratie: langweilig und gerecht.
 

Hätten wir nur dieses Minus-Punkte-System, unsere Langzeitwette wäre reiner Verwaltungsfußball. Wir haben aber ein zweites Bewertungssystem, und das misst positiv. Es verteilt Bonuspunkte und Prämien. Es ist dynamisch, sprunghaft, neoliberal und ungerecht. Aber spannend. Aus kleinen Unterschieden in der realen Bundesligatabelle macht es große Sprünge in unserer Wetttabelle. Ein einzelnes Tor kann in den Rubriken „Torschützenkönig“, „Bester Sturm“, „Beste Abwehr“ oder gleich mehreren dieses Typs den Sprung an die Spitze bringen.
 

Im Zentrum des sprunghaften Bonussystems aber steht der Lieblingsclub. Er gehört zu den unverfügbaren Entscheidungsvoraussetzungen. Denn es ist bekanntlich Schicksal, für welchen Klub man fiebert. Durch Geburt oder Wahlverwandschaft wird man Anhänger eines Vereins und bleibt es in allen Höhen und Tiefen. Natürlich geht es bei uns nicht darum, wessen Klub am Ende die beste Platzierung erreicht. Es geht allein darum, wie nah wir mit der Einschätzung unseres Klubs der Wirklichkeit kommen.
 

Jeder von uns markiert vor der Saison in seiner Tabelle seinen Lieblingsklub. Trifft kein Konkurrent dessen Platzierung genauer als wir selbst, können wir mit der Prognose unseres Lieblingsklubs die höchste Punktprämie einstreichen. Sie rangiert noch vor dem Meistertipp. Zu recht. Dann stoßen in unserem Wettsystem Leidenschaft und Interesse, Hoffnung und Kalkül der Wetter am härtesten aufeinander. Nehmen wir nur den Kollegen K., ansonsten ein großer Realist, den es am Ende den Wettmeistertitel kosten könnte, dass er seinen 1.FC Köln ins sichere Mittelfeld gesetzt hat. Und stellen wir ihm den Kollegen B. gegenüber, der am Ende für die Selbstüberwindung, mit der er die Zähne zusammengebissen und seine Frankfurter Eintracht auf einen Abstiegsplatz gesetzt hat, belohnt werden könnte. Was ist die Selbstverleugnung eines Toto-Tippers, der ein Spiel seiner Eintracht verloren gibt, gegen die Leiden des Kollegen B., der im Widerstreit von Leidenschaft und Kalkül über die ganze Saison hinweg auf den Abstieg seiner Eintracht spekuliert?
 

Kinder wetten gelegentlich darauf, ob als nächste ein Mann oder eine Frau um die Ecke kommt. Schon sie haben das Prinzip der Wette begriffen: die Dramatisierung dessen, was ohnehin geschieht. Die Selbstfestlegung durch eine Prognose, aus der diese Dramatisierung hervorgeht, ist die Quelle der Leiden wie der Freuden des Wetters. Oft geschieht es, dass er sich selbst nicht mehr versteht, ja fremd wird. Ist das wirklich wahr? Habe ich wirklich vor Saisonbeginn Hertha BSC so hoch gesetzt? O ja, das hast Du, sagt die grausame eigene Tabelle. Die landläufige Ausflucht, die Friedrich Nietzsche so unnachahmlich beschrieben hat, ist uns versperrt: „Dies habe ich getan, sagt das Gedächtnis. Dies kann ich nicht getan haben, sagt der Stolz; endlich gibt das Gedächtnis nach.“
 

Außenstehenden ist gar nicht klarzumachen, wie viel Energie uns so eine Saison kostet. Der einzige, der uns verstehen könnte, Nietzsche, ist tot. Er hätte nicht nur unsere Leiden, sondern auch unsere Freuden verstanden, die nervöse Erhöhung der Lebensspannung, die in unserem Wettsystem aus der Dramatisierung des Gesamtgeschehens „Bundesliga“ hervorgeht. Denn in der realen Saison mag, wie im letzten Jahr, der Titelkampf frühzeitig entschieden sein und nur noch der Abstiegskampf für Spannung sorgen. Bei uns ist alles spannend. Kein Detail, das in unserem System nicht plötzlich eine entscheidende Rolle spielen könnte. Wir kennen keine grauen Mäuse und keine belanglosen Paarungen mehr. Wie Wolfsburg in Rostock spielt, wird für uns zum Spitzenspiel, aus dem ein neuer Tabellenführer hervorgeht.
 

Unsere Wettgemeinschaft besteht aus sechs Spielern, sechs Deutschen. Sie leben aber in vier Ländern. B. lebt in der Schweiz, K. lebt in England, S. , St. und M. leben in Deutschland. Und Sch. lebt in Bayern. Wir tippen elektronisch. Unser Stadion ist das Internet. Hier schauen wir gebannt auf das Auf und Ab unseres Spielgeschehens, hier kommentieren, reflektieren und beschwören wir hemmungslos das eigene und fremde Schicksal. Hier bewährt sich die Langzeitwette als Perpetuum mobile der Deutung des Bundesligageschehens wie ihrer eigenen Abgründe.
 

Nicht nur, weil wir die räumliche Distanz zwischen den Mitspielern zu überwinden haben, ist das Internet unser Stadion. Sondern auch, weil in unserem Wettsystem große Datenmengen verarbeitet und ausgetauscht werden müssen. Am Montag gehen uns aus dem jeweiligen Rechenzentrum nicht nur die synoptischen aktuellen Tabellenstände der Bundesliga wie unserer Wette zu. Wir erhalten zugleich ein farbiges Excel-Diagramm des bisherigen Wettverlaufs mit unseren individuellen Platzierungskurven. Es sieht aus wie der Dax, heißt aber Bux. In dieser Saison ist der Bux dauerhaft im Minus. Wir haben alle schlecht gewettet. Aber das macht nichts. Auch unsere Minuskurven sind spannend. Notfalls ist unser Meister ein Kellermeister.
 

Aber wir wollen nicht klagen. Auch wenn wir uns alle bisher im Minusbereich bewegen, erhalten wir wegen der hedonistischen Elemente unseres nicht-puristischen Wettsystems wöchentliche Ausschüttungen. Sie sind minimal, um die Relation zur Endausschüttung zu wahren, und nur der jeweilig Erstplatzierte kommt in ihren Genuss, aber immerhin. Und es gibt für uns auch dann einen Hoffnungsschimmer, wenn der bisherige Saisonverlauf die Schwächen unseres Tipps mit schonungsloser Härte bloßgelegt hat: die Winterpause.
 

Die Winterpause ist für uns keine Pause. Sie ist erfüllt von Reflexion, Recherche, Revision. Sie ist unsere letzte Chance. Denn hier dürfen wir einmalig streng begrenzte Korrekturen an unserem Tipp vornehmen. Das kostet uns Geld und Punkte, aber mancher ist schon durch eine Minimalkorrektur Meister geworden, mancher hat den Titel durch allzu selbstgewissen Verzicht auf jede Korrektur verspielt. Die begrenzte Revision ist für uns, was für einen Trainer die Auswechslung in der Halbzeitpause ist. Sie ist die einzige taktische Handlung, die uns nach Beginn der Saison noch bleibt.
 

Wir müssen in der Winterpause nicht nur überlegen, ob wir, falls wir Giovane Elber als Torschützenkönig getippt haben, in eine Korrektur investieren, wenn Elber nach wenigen Spieltagen ins Ausland verkauft wurde. Wir müssen nicht nur gründlich überlegen, welchen Verein wir in die neu eingeführte Rubrik „Erste Trainerentlassung nach der Winterpause“ eintragen. Wir müssen vor allem eine Lösung für die großen Fragen finden. Wird Bremen, obwohl es Ailton bis zum Saisonende halten konnte, auch nach dieser Winterpause, wie stets in den letzten Jahren, einbrechen oder nicht? Wie auf dem Platz ersetzt kein Rechengeschiebe die geniale Intuition.
 

Unser Titelkampf wird erfahrungsgemäß in der Winterpause entschieden. Wir verlassen sie erschöpft.

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