Harry Plotter und die Teppichmesser des Schreckens

 

Mythischer Kern, sagenhafte Struktur, gruselndes Ambiente:
Der Report der 9/11-Kommission hat das Zeug zum magischen Bestseller

 

 

 „Schon der Anfang!“, schimpfte Marcel Reich-Ranicki einst beim Literaturwettbewerb in Klagenfurt über einen Erstlingsroman, aus dem ein Autor gerade vorgelesen hatte: „…Wuppertal! Also ich würde einen Roman nie in Wuppertal anfangen lassen….“  Das ist natürlich blanker Unsinn, aber wenn der Wortwart vom Wörthersee sich mal in Wallung geredet hatte, kam selbst derlei Unfug mit literaturpäpstlicher Autoriät rüber.   Thomas Kean  hätte bei Reich-Ranicki mit Sicherheit bessere Karten: „We have some planes“ hebt sein Narrativ an – das ist schon mal sehr viel spannender als Wuppertal:

 

 

Tuesday, September 11, 2001,
dawned temperate and nearly cloudless
 in the eastern United States.
Millions of men and women readied themselves for work.
Some made their way to the Twin Towers, the signature structures of the

World Trade Center complex in New York City.
Others went to Arlington,Virginia,to the Pentagon. Across the Potomac River,
the United States Congress was back in session.
 At the other end of Pennsylvania Avenue,
people began to line up for a White House tour.
In Sarasota, Florida, President George W. Bush went for an early morning run.

For those heading to an airport, weather conditions could not have been better

for a safe and pleasant journey.
Among the travelers were Mohamed Attaand Abdul Aziz al Omari,

who arrived at the airport in Portland, Maine.

 

 

Wenige Zeilen, die eine Welt eröffnen, Millionen von Menschen, Gebäude, Straßen, der Himmel, das Wetter…und dann der Focus auf die beiden Helden – den Guten, der in Florida zu einem Morgenlauf aufbricht und den Bösen, der sich 1000 Meilen weiter nördlich unauffällig unter die Reisenden eines Flughafen mischt. Schon die ersten Sätze fangen das Drama ein und die raunende wörtliche Rede der Kapitelüberschrift, „We have some planes“ deutet  an, welche Tragödie  sich abspielen wird.  Der epische Ton, der hier anklingt, kommt nicht von ungefähr, denn was in der Folge erzählt wird, ist eine Geschichte aus archaischen Zeiten – in neuer Form und modernem Ambiente, aber mit dem Kern eines alten Mythos; in zeitgenössischer Sprache, aber mit dem Handlungsmuster der klassischen Sage. Solche  Adaptionen klassischer Mythen gehören  seit je zu den Erfolgsrezepten zeitgenössischer Prosa, und wenn  sie gelingen ist der Bestseller meist garantiert. So auch bei diesem Werk, von dessen Starauflage von einer halben Million Exemplaren  in den USA nach den ersten drei Tagen schon 150.000 Bände

verkauft wurden. Der Mythos, den es aufgreift, ist die biblische Geschichte des Hirtenjungen David, der den bis an die Zähne bewaffneten Riesen Goliath mit einer einfachen Steinschleuder bezwingt.  Die Zwille wird ersetzt durch neuzeitliche „box-cutter“, in der Rolle des Hirtenjungen finden wir 19 junge Araber und den Goliath – „sechs Ellen und eine Spanne groß“, mit einem „Schuppenpanzer aus Bronze, der fünftausend Schekel wog“ – gibt natürlich die hochgerüstete Weltmacht USA.  Suchte  man für den magischen Realismus dieser Prosa -  die unter der drögen Bezeichnung „The 9/11 Commission Report“ auch kostenlos heruntergeladen werden kann (7,4 MB) -  einen etwas passenderen Titel, der die Verbreitung noch weiter ankurbeln würde, schiene  „Harry Plotter und die Teppichmesser des Schreckens“ sehr geeignet. Von einem langjährigen Harry-Potter-Fan

ist das erstmal als Kompliment zu verstehen: die 580-Seiten-Schwarte  - davon knapp 400 „Roman“, der Rest Anhang und Fußnoten - liest sich weg wie eine Semmel…

 

 


Das "unabhängige" Autorenteam & sein Geschäftsverbindungen - Grafik:Joyce Lynn

 

 

 

2,5 Millionen Seiten Dokumente, 1200 Interviews, 1000 Stunden Audio-Protokolle, 19 Hearings mit 160 Zeugen –die  schiere Masse an Material, das die 80 Vollzeitmitarbeiter zusammengetragen und gesichtet haben, ist eindrucksvoll – auch wenn das Recherche-Budget der Autoren mit 15 Millionen knapp bemessen war: für die „Wahrheitsfindung“ in  Clintons Lewinsky-Skandal  wurden seinerzeit 70 Mio. $ investiert.  Bei diesem vergleichsweise knappen Etat mag es verständlich sein, das viele Zeugen, die über das Leben der „Hijacker“ in Florida und anderswo hätten berichten können, gar nicht gehört wurden; auch für die Flugschulen und Lehrer, mit denen sie monatelang zu tun  hatten, hat das Recherchegeld nicht gereicht – und schon gar nicht, um den harten Kern der Legende wirklich zu dokumentieren: dass nämlich Osama Bin Ladin, der böse Zauberer in der Höhle Tora Bora, die 19 Hirtenjungen entsandte, die dann ganz allein und nur dank ihrer magischen Teppichmessern die TwinTowers zu Fall brachten. Wie sie dieses Wunder vollbrachten wird zwar in den zwei Kapiteln über den Plot beschrieben – doch ein Kasten weist ausdrücklich darauf hin, dass hier die Ausführungen  nun endgültig romanhaft werden: sie beruhen auf unüberprüften, möglicherweise unter Folter zustande gekommenen  Aussagen von Gefangenen. Es sind dies vor allem die Erzählungen von Khalid Scheich Mohamed (KSM)

(Das „geplatzte“ Geständnis ) - eines Phantoms, das keinem Gericht der Welt zu Befragungen zur Verfügung steht;  sowenig wie  die „interrogaters“, die die Verhöre führten. Und so war auch dieses Autorenteam einzig auf die schriftlichen Protokolle dieser „Befragungen“ angewiesen: ein Geheimdienstroman.

 

„Kostbare Wahrheiten umgeben von einer Leibwache aus Lügen“ werden denn auch die Aussagen von KSM in einer Fußnote betitelt – und wie das Gesamtwerk  den sagenhaften Kern einfach umdreht und aus der Perspektive des gutmütigen und schlafenden Rüstungs-Riesen Goliath erzählt, der von einem heimtückischen David hereingelegt wird, könnte man diesen Titel zur Beschreibung des Gesamtwerks  verwenden: es enthält kostbare Lügen umgeben von einer Leibwache aus Wahrheiten.

 

Die lesen sich dann, etwa in der Beschreibung des Werdegangs Bin Ladins, so:

 

 

The international environment for Bin Ladin’s efforts was ideal.Saudi Arabia

and the United States supplied billions of dollars worth of secret assistance

to rebel groups in Afghanistan fighting the Soviet occupation.This assistance

was funneled through Pakistan:the Pakistani military intelligence service (Inter-

Services Intelligence Directorate, or ISID), helped train the rebels and distribute

the arms. But Bin Ladin and his comrades had their own sources of

support and training, and they received little or no assistance from the

United States.

 

Man hatte also eigentlich nie etwas mit ihm zu tun, trotz Bereitstellung eines internationalen „environments“ und den vielen Milliarden, die die Jihad-Terroristen ursprünglich aktiv werden ließen.  Dass der erste internationale Haftbefehl gegen Bin Ladin dann nicht von den USA beantragt wurde, sondern von Lybiens Ghadaffi – diese schöne Pointe fehlt dann allerdings. Dafür werden aber dann z.B.  zehn  „verpaßte“ Gelegenheiten benannt, den Agenten Khalid Al Midhar festzunehmen,  um  im Anschluß festzustellen:

 

„Who had the job of managing the case to make sure these things were done ? One answer is that everyone had the job.“


Nach dem Motto : „Alle machen mit, aber  keiner war’s“ geht das so weiter. Was das Ausbleiben der Luftabwehr betrifft, wird  Condolezza Rice’s
 opernhafte Arie „Flugzeuge als Bomben?-  unvorstellbar!“  mehrfach wieder aufgenommen (der Chef des Autorenstabs, Philip Zelikow, fungierte sinnigerweise zuvor schon als ihr Ko-Autor). Die verschiedenen Übungen und Wargames, bei denen genau das geübt wurde, bleiben freilich unerwähnt – dafür liefern die Autoren aber eine Erklärung, warum die militärische Luftverteidigungsbehörde NORAD so „unvorbereitet“ war:

 

 

The North American Aerospace Defense Command imagined the possible

use of aircraft as weapons, too, and developed exercises to counter such a

threat—from planes coming to the United States from overseas.(…)
As we pointed out in chapter 1, the military

planners assumed that since such aircraft would be coming from overseas;

they would have time to identify the target and scramble interceptors

 

Die Feuerwehr konnte also nicht ausrücken, weil die Brandstifter nicht wie geplant aus dem Ausland kamen. Das erklärt natürlich alles. Weil die nach „overseas“ ausgerichteten NORAD-Leute wohl nicht gestört werden sollten, konnte dann folgendes passieren:

The Langley fighters were not scrambled in response to United 93; NORAD did not have 47 minutes to intercept the flight; NORAD did not even know the plane was hijacked until after it had crashed.

 

Die für den standardisierten „Quick Reaction Alarm“ von Abfangjägern zuständige Behörde war also über die Vorgänge am Himmel über ihren Köpfen ungefähr so gut informiert wie die Zuschauer von CNN. Auch im Pentagon wußte man einfach nichts von einer entführten AA 77 weshalb Rumsfeld in aller Seelenruhe die geplante Sitzung in seinem Büro abhielt – und Joint Chieff Of Staff Mayers im Kongreß über seiner Beförderung plauderte. Dennoch waren die beiden obersten Feldherrn einfach nicht zu erreichen:

 

 

At 9:44,NORAD briefed the conference on the possible hijacking of Delta

1989.Two minutes later, staff reported that they were still trying to locate Secretary

Rumsfeld and Vice Chairman Myers. The Vice Chairman joined the

conference shortly before 10:00; the Secretary, shortly before 10:30.

 

So etwas  kommt ja vor – und so glatt und flüssig, wie es die Doku-Prosa dieses Reports erzählt, geht es auch runter, bis man sich fragt, ob ein solches Verhalten der Staatsführung auch noch normal ist, wenn gerade zwei Türme im Herzen New Yorks getroffen und 3000 Bürger ermordet worden sind

 

The President was seated in a classroom when,at 9:05,Andrew Card whispered

to him: “A second plane hit the second tower.America is under attack.”The

President told us his instinct was to project calm, not to have the country see

an excited reaction at a moment of crisis.The press was standing behind the

children; he saw their phones and pagers start to ring. The President felt he

should project strength and calm until he could better understand what was

happening.

 

Instinktiv Stärke und Ruhe ausstrahlen, Ziegengeschichten lauschen  und versuchen besser zu verstehen was das bedeutet: „America is under attack“. In Michael Moore’s „Fahrenheit 9/11“ ist die ungeschnittene Szene  eine der absurden Höhepunkte – hier ist man schon auf Seite 38 so eingesogen in die Konstellation, das auch das glatt durchgeht. Es ist stimmig, es paßt – so verdutzt ist der schlafenden Riese von dem Überraschungsangriff, dass er erstmal business as usual weitermacht.

 

Trotz der Berge an Material und der Flut von Verweisen und Fussnoten enthält das Buch, was den Ablauf der Tat betrifft, wenig wirklich Neues. Bisher nicht bekannte Aufzeichnungen des Cockpitrecorders  der UA 93 sollen  belegen, dass die Maschine nicht von den Passagieren, sondern von den Hijackern selbst zum Absturz gebracht wurde. Dabei wird jetzt auch

das „Allah ist der Größte“ überliefert, das der Pilot vor dem Crash zwei mal gerufen haben soll, und das von Anfang an von vielen  als Funkbekenntnis fanatischer Islamisten vermißt worden war. Ebenfalls nachgereicht wurde zusammen mit der Veröffentlichung des  Reports ein körniges Video, das die in Washington startenden Hijacker bei der Sicherheitskontrolle zeigt – nach knapp drei Jahren ein Beweis der nach drei Tagen hätte vorliegen können. An jenem Tag, als Bin Ladin sein allererstes Statement nach dem 11.9 per Video abgab – und jede Beteiligung bestritt, statt sich stolz zur Großtat zu bekennen. Da auf dem jetzt veröffentlichten Einsteigevideo keine Markierung und kein Datum zu sehen sind bleibt es ein Muster von zweifelhaftem Wert.

  

Von äußerst zweifelhaftem Wert bleibt auch die Antwort, die  das Mammutwerk auf die Fragen des 11.9. gibt und die der Kommissionsleiter als Zusammenfassung und gleichsam als Klappentext kundtat:

  

„Dies war ein Versagen der Politik, des Managments, der Fähigkeiten und vor allem ein Versagen der Vorstellungskraft.“

 

Der Trilogie von Pleiten, Pech und Pannen ( Alles untersucht, nichts geklärt, niemand verantwortlich - Mission erfüllt ) kann also, allen voran,  noch um Phantasielosigkeit erweitert werden. Und dies ist nun wirklich einfallsreich (und schon ein wenig dreist angesichts der Tatsache, dass just das Scenario „Entführte 757 stürzt ins Pentagon“ als Notfallübung wenige Monate zuvor simuliert worden war.) : es kann schon deshalb niemand verantwortlich sein, weil sich niemand so etwas auch nur vorstellen konnte! Condi Rice hat diesen Ball umgehend aufgenommen und die Schuld am 11.9. nun endgültig breit gestreut:

 

“Das amerikanische Volk teilt die Schuld für den 11.9, weil es die Gefahr der terroristischen Bedrohung unterschätzt hat.“

 

 

Das kann nun als Ergebnis und Siegerehrung dieses Untersuchungsromans so stehen bleiben – zumindest im Sinne des Auftraggebers der Arbeit, George W. Bush, der den Bericht denn auch als „sehr konstruktiv“ begrüßte. Über die diversen Steilvorlagen für „mehr Sicherheit“ – einschließlich eines neuen Gestapo-Ministeriums - die der Report zum Abschluß gibt, wird sich jetzt ganz  trefflich diskutieren lassen, so dass die Löcher und Widersprüche  der Darstellung vorerst kein großes Thema in den Medien werden, die den Report allgemein begrüßten. Dass die Kernaussagen über den Plot von einem Phantom stammen - und weder juristisch haltbar, noch ethisch akzeptabel sind – dieses entscheidende Manko wurde in den ersten „Rezensionen“  nicht einmal erwähnt, geschweige denn kritisiert.

 

Doch ohne Widerspruch wird die Sage vom ohnmächtigen Goliath dennoch nicht durchgehen – schon hat Michael Meacher, der wegen des Irakangriffs zurückgetretenen britische Umweltminister, im „Guardian“ auf einen Komplex gedeutet, der in dem Bericht gezielt vertuscht wird: die Pakistan-Connection. Für die Geldüberweisungen an Atta & Co. zeichnen jetzt nicht mehr der pakistanische ISI, sondern das Phantom KSM verantwortlich. Wie Saudi-Arabien, für dessen Beteiligung an der Finanzierung „keine Beweise“ gefunden wurden, wird auch der Alliierte Pakistan  aus der Schußlinie gebracht. Die Kommission empfiehlt  für die Beziehungen zur Militär-und Heroindikatatur in Islamabad – den Geburtshelfern des Jihad, der Taliban und „Al Quaeda“ -  langfristig auszubauen.

 

Und damit wohl auch jene Geldwäsche,- und Drogengeschäfte,  in die die 9/11-Hijacker vermutlich verwickelt  waren  und über die die FBI-Übesetzerin Sibel Edmonds  in einer dreistündigen Aussage vor der Kommission berichtete. Jetzt wundert sie sich in einem  ersten Kommentar , warum  dieser Komplex in dem Bericht völlig   ausgespart blieb.

 

Dies werden nicht die einzigen „Mängelberichte“ bleiben, die dieser Weißwaschreport zu gewärtigen hat – schon fordert die Bürgeriniative „Citizen Watch“ ein Tribunal, das analog der südafrikanischen „Wahrhheitskommission“  eine unabhängige Untersuchung durchführt. Im Sinne von Bush & Co. hat der „Harry Plotter“-Bestseller seine Aufgabe erfüllt, die Autoren haben es auf magische Weise verstanden, jede Verantwortlichkeit wegzuzaubern  und gleichzeitig den Focus  auf die Bush-Doktrin, die Verschärfung des „war on terror“, auszurichten – eine propagandistische Meisterleistung.  In sofern hat Thomas Kean recht wenn er sagt: „Wir glauben, dass dies das definitive Werk zu 9/11 ist“ – was die Wahrheit betrifft steht das definitive Werk allerdings noch aus.

 

Mathias Bröckers, 24.07.04

 

 

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