SCHACH OHNE TÜRME oder MONOPOLY XXXL
 

Christian C.Walther, Autor der 119 Fragen zum 11.9., hat ein Stammtischgespärch über Versicherungsfragen belauscht
 

 

Wenn Sie am Stammtisch oder bei ähnlicher Gelegenheit die Geschichte eines reichen Bauunternehmers aus Ihrer Gegend hören, der eine Bruchbude mietete, teuer versicherte und dann, kaum sechs Wochen nach Unterschreiben des Mietvertrags, das Objekt wegen Brandstiftung im Keller als Totalschaden verlor – denken Sie dann automatisch irgendwas Böses? Gar an Versicherungsbetrug? Nein? Herzlichen Glückwunsch – Sie gehören zu denen, die uns allen Hoffnung machen; denen, die stets an das Gute im Menschen glauben.

Wenn dann aber einer am Stammtisch nachlegt und darauf hinweist, die Trümmer seien anschliessend nicht mal von einem Gutachter angeschaut worden, und im übrigen sei auch noch ein anderes Haus des Bauunternehmers, nämlich das auf der anderen Strassenseite, ein paar Stunden später ohne ersichtlichen Grund zusammengebrochen - glauben Sie dann immer noch, dass das alles mit rechten Dingen zuging? Ja?

Erlauben Sie mir das Geständnis, dass ich Sie, ohne Sie zu kennen, sehr, sehr mag. Ihnen würde ich sogar mein Auto leihen, ohne Ihren Führerschein einzubehalten.

Im Fall des World Trade Center ist diese merkwürdige Geschichte tatsächlich passiert. Auf die Gefahr hin, dass Sie den ersten Teil kennen, fasse ich noch einmal kurz zusammen.

Im Juli 2001 mietete der New Yorker Investor Larry A. Silverstein das World-Trade-Center-Gelände von der New Yorker Hafenbehörde. Es war das erste Mal in der Geschichte des Komplexes, dass die Stadt die Gebäude aus der Hand gab. Der Vertrag hatte eine Laufzeit von 99 Jahren, Silverstein sollte jährlich 115 Millionen zahlen. Finanziert wurde das Ganze durch Bankkredite. Silverstein selbst war mit 125 Millionen Dollar Eigenkapital dabei. Versichert war der Komplex bis zu einer Schadenshöhe von 3,55 Milliarden Dollar bei „Totalverlust“, wobei Silversteins Selbstbeteiligung bei exakt einer Million lag. Es gab einigen Renovierungsbedarf in den Türmen, denn beim Bau in den 70er Jahren war, wie in so vielen anderen Gebäuden auf der Welt, zu Isolierungszwecken reichlich Asbest verwandt worden. Nicht nur deshalb standen etliche Büros auf dem Gelände und in den Türmen leer. Aber für Silverstein ging mit der Anmietung der WTC-Gebäude offenbar ein lang gehegter Traum in Erfüllung, denn das Gebäude Nummer 7 gehörte ihm und war bereits seit etlichen Jahren Hauptfirmensitz der Silverstein Properties. Im gleichen Gebäude befand sich überdies auch die Notfall-Kommandozentrale des New Yorker Bürgermeisters, einige Büros des Secret Service, sowie ein mit 160.000 Litern Dieselkraftstoff gefüllter Tank, mit dem man im Fall der Fälle diverse Notstromaggregate betreiben wollte. Die Vertreter der Stadt New York und Larry Silverstein waren als Mieter und Vermieter mithin alte Bekannte.

 

Als am 11. September die beiden Türme kollabiert waren und die darunterliegenden Gebäude zerstört hatten, stürzte nach einem mehrstündigem Brand auch das Gebäude Nummer 7 in sich zusammen. Dabei handelte es sich um ein historisch in so fern bemerkenswertes Unglück, als weltweit noch nie zuvor ein Hochhaus durch blosse Brandeinwirkung eingestürzt war. Eine befriedigende (oder gar beruhigende) Erklärung, wie das geschehen konnte, steht bis heute aus; ebenso dafür, weshalb WTC 7 wie seine grossen Brüder, die getroffenen Türme, sauber implodierte, statt einzuknicken oder umzustürzen. Gerüchte, denen zu folge es Explosionen in den Türmen gegeben hatte, wurden in den Tagen nach dem 11. September dementiert. Bis heute ist die Frage unbeantwortet, weshalb die zuständigen Feuerwehrleute, die bis zum Brandherd im Südturm vorgedrungen waren, keine Beschädigungen in einer Dimension vorfanden, die darauf hätten hindeuten können, das Gebäude wäre im geringsten einsturzgefährdet. Eine genaue Untersuchung all dieser Aspekte hat nicht stattgefunden – und wird nicht mehr stattfinden, da sämtliche relevanten Trümmerteile längst beseitigt worden sind.

So viel zur verhinderten Rolle des Gutachters, der in jedem normalen Schadensfall vorbeikommt und sich das Ganze gründlich anschaut. Bei Ihrem Unfallschaden gilt das. Beim World Trade Center nicht.

Dem hässlichen Verdacht, irgend etwas bei diesem ganzen Deal, der erst sechs Wochen vor den Anschlägen über die Bühne ging, könne möglicherweise nicht ganz koscher gewesen sein, ist allerdings energisch zu widersprechen. Denn Larry Silverstein ist nicht der krumme Bauunternehmer aus dem Stammtischbericht von oben, der eine Bruchbude kauft, sie dann abfackeln lässt und sich anschliessend mit der üppigen Versicherungssumme vom Acker macht. Wie wir aus der Presse wissen, will Silverstein das World Trade Center wieder aufbauen – wozu er im übrigen durch den Vertrag mit dem Vermieter verpflichtet ist. Dazu braucht er Geld, und das will er von den Versicherungen haben. Logisch.

 

Für leichte Irritationen sorgte allerdings recht bald, nachdem sich der Staub gelegt hatte, die Forderung von Silversteins Anwälten: statt der vereinbarten Höchstsumme von 3,55 Milliarden Dollar forderten sie von den Versicherungen eine Entschädigung von 7,1 Milliarden.

Die Begründung hätte hohen Unterhaltungswert, wenn das Ganze nicht so ernst wäre. Silversteins Anwälte argumentierten, die Entschädigungssumme sei für den Fall vereinbart worden, dass das versicherte Objekt durch einen wie auch immer gearteten einzelnen Vorfall zerstört würde. Das versicherte Objekt sei allerdings nicht durch einen einzelnen, sondern durch zwei voneinander völlig unabhängige Vorfälle zerstört worden, nämlich zwei völlig unabhängig voneinander fliegende Flugzeuge. Deshalb wären 7.1 Milliarden zu zahlen, nicht 3,55.

Man fragt sich, wer auf so was kommt.

Ein Anwalt, klar, also einer, der sich laut Weisheit des Volkmundes nur in so fern von einem Spermium unterscheidet, als sich das Spermium wenigstens mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million als menschliches Wesen entpuppt. Im vorliegenden absurden Fall aber lässt sich aus der Forderung nicht nur eine gewisse Reserviertheit Juristen gegenüber ableiten, sondern – wichtiger - eine interessante Entlastung, denn: Hätte unser Stammtisch-Bauunternehmer geplant, die Hütte abzufackeln und die Versicherung zu kassieren – dann wäre er doch wohl im Besitz einer gültigen Police gewesen, oder?

Silverstein hatte keine.

Es gab nämlich keinen Vertrag mit den Versicherungen.

Es gab lediglich Vorverträge, Memos, handschriftliche Notizen. Genug, um die Versicherungen in die Pflicht zu nehmen, aber zu wenig, um mit dem Finger auf eine genaue Summe deuten zu können.

Damit dürfte wohl jeder von „Konspirologen“ geäusserte Verdacht entkräftet sein, Silverstein oder irgendwer in seinem Umfeld habe möglicherweise etwas von den bevorstehenden Anschlägen gewusst oder geahnt. Denn in diesem Fall hätte er garantiert eine gültige Police über 10 Milliarden Dollar besessen. Und zwar eine wasserdichte, unterschriebene, beglaubigte und 100mal photokopierte Police.

Dass Silversteins Anwälte die doppelte Summe forderten, hatte also scheinbar weniger mit Gier zu tun, als mit Verzweiflung. Denn Silversteins eigene Juristen hatten den Schaden im Fall einer vollständigen Zerstörung des gemieteten Objektes schon vor dem September 2001 mit 5,05 Milliarden Dollar bewertet. Die Police war Silverstein aber zu teuer gewesen, darum hatte er sich „nur“ für 3,55 Milliarden abgesichert.

Diesen Sachverhalt der bewussten Unterversicherung konnten die Anwälte der Versicherungsgesellchaften relativ rasch nachweisen, nachdem sie Einsicht in die internen Memos der Silverstein-Rechtsberater vor und unmittelbar nach der Zerstörung des WTC genommen hatten. In den Augen der Versicherungsanwälte entbehrte das, was Silverstein forderte, jeder rechtlichen Grundlage: Wie konnte jemand allen Ernstes zweifach für den Totalverlust einer einzigen versicherten Sache kassieren wollen?

So gesehen, gab es von Anfang an keinen Streitfall, sondern bloss eine Menge heisse Luft. Aber Silversteins PR-Abteilung erreichte immerhin, dass in der nicht direkt detailverliebten Öffentlichkeit eine „Einerseits-Andererseits“-Debatte begann, die zwar jeder vernünftigen Grundlage entbehrte, aber nichts desto trotz stattfand. Binnen kurzer Zeit schien es tatsächlich darum zu gehen, ob der Stadt New York 3,5 Milliarden oder 7 Milliarden zum Wiederaufbau zur Verfügung stehen würden – und die geizigen Versicherungen standen öffentlich als geschmacklose Paragraphenreiter da.

Über diese Wahrnehmung gingen einige wichtige Details verloren, denn es gab ja nicht nur die nun offenbar strittigen Absprachen zwischen Mieter und Versicherern. Es gab in dieser Angelegenheit auch noch andere Verträge, sogar unterschriebene. Zum Beispiel die von Larry Silverstein mit seinen Geldgebern, den Banken. Oder Silversteins Vertrag mit seinem Vermieter, dem Besitzer des World Trade Center: der New Yorker Hafenbehörde.

Dieser Vertrag sah folgendes vor: im Fall der Vernichtung der Mietsache hatte der Mieter 1.5 Milliarden Dollar Schadenersatz zu leisten, sofern er nicht wieder aufbaute. Zusätzlich würde Silverstein etwa 600 Millionen an die Banken zu zahlen haben. Da er selbst „nur“ 125 Millionen aus eigenen Mitteln auf den Tisch gelegt hatte, ergab sich hieraus eine recht einfache Rechnung: 1,5 Milliarden Schadenersatz an die Stadt, 600 Millionen an die Banken, 125 Millionen Eigenkapital, das macht rund 2,2 Milliarden Dollar. Bei einer Versicherungssumme von 3,55 Milliarden blieben Silverstein also etwa 1,3 Milliarden - gesetzt den Fall, dass er nicht wieder aufbaute ...

Augenblick mal.

Wieso eigentlich „nicht“? Hatten wir nicht oben gelernt, dass er zum Wiederaufbau vertraglich verpflichtet war?

Werfen wir hierzu einen Blick über die Schulter von Barry Ostrager, dem Anwalt, der die Versicherungen vertritt: einen Blick in Silversteins Vertrag mit der Stadt New York.

 

Die erste Klausel verpflichtete Silverstein, sämtliche Versicherungsentschädigungen zum Wiederaufbau zu verwenden, falls das World Trade Center zerstört würde. Aber die zweite Klausel verpflichtete die Hafenbehörde, Silverstein zu erlauben, das WTC exakt so wieder aufzubauen, wie es gewesen war, damit er die gleiche Fläche wieder würde vermieten können. Was aber, wenn, was offenbar der Fall war, der Komplex unmöglich wieder so errichtet werden konnte, wie er gewesen war? (...) Faszinierenderweise stand dazu im Vertrag überhaupt nichts, ausser dass für den Fall, dass ein Wiederaufbau nicht ratsam erschiene, beide Seiten verhandeln müssten. (Stephen Brill, After – The Defending and Rebuilding of America in the September 12 Era, S. 229)

 

Wow. Auf gut Deutsch: stimmte die Hafenbehörde irgend einem schrägen oder bunten Architektenvorschlag zu und wiese Silverstein an: „Bau uns das mal da hin!“ – könnte jener auf seinen Vertrag pochen, einfach „Nein“ sagen – und sich verabschieden. Mit allem, was ihm jenseits der etwa 2 Milliarden Kosten an Gewinn bliebe. Entweder circa 1.5 Milliarden, falls die Versicherungen „nur“ 3,55 Milliarden zahlten – oder eben 5 Milliarden, sollte Silverstein vor Gericht recht bekommen.

Das erklärt vermutlich den Eifer von Silversteins Anwälten in diesem prinzipiell aussichtslosen und völlig aus der Luft gegriffenen „Das-waren-zwei-Schadensfälle“-Schadensfall.

Aber unterschätzen wir nicht die Intelligenz der US-Regierung und ihrer juristischen Vertreter. Natürlich fiel diese haarige Formulierung auch den zuständigen Damen und Herren auf, und als im November 2001 auf politischer Bühne verhandelt wurde, wer in welcher Höhe für etwaige Schäden würde haften müssen und wer nicht, kam folgendes heraus: die Hafenbehörde würde mit höchstens jener Summe haften, die sie von Versicherungen erhalten würde. Die Architekten und Erbauer des WTC wurden entlastet. Die Fluggesellschaften würden lediglich bis zur Höhe ihrer eigenen Versicherungen haften. New York selbst hatte keine Versicherung für solche Fälle: man einigte sich auf eine Höchstgrenze von 350 Millionen Dollar.

Und Silverstein?

Der war eigentlich schon aus dem Schneider, nachdem die Port Authority als Besitzer der Gebäude zuerst verklagt werden würde (wenn überhaupt jemand verklagt würde, was mangels Untersuchung resp. Nachweis von Nachlässigkeiten eher unwahrscheinlich war). Aber auch Silverstein kriegte seine Höchstgrenze, bis zu der er im Fall von Schadenersatzklagen würde geradestehen müssen. Allerdings bekam er die Absicherung nur unter einer entscheidenden Auflage: man würde ihm diese „Liability Cap“ wieder wegnehmen, falls er seiner Verpflichtung nicht nachkäme, „das World Trade Center wieder aufzubauen oder am Wiederaufbau mitzuwirken.“

Damit waren die Bedenken der Demokraten im Senat vom Tisch: Silverstein würde nunmehr in keinem Fall einen Gewinn einstreichen und einfach verschwinden können, ohne zu bauen.

Wirklich?

Erinnern Sie sich noch an den Vertrag von oben?

„Exakt so, wie es vorher war.“

Genau daran änderte auch die strenge Zusatzvereinbarung nichts. Und da niemand das World Trade Center „exakt so, wie es vorher war“ würde wiederhaben wollen, war Silverstein mit dieser von Vater Staat selbst ausgeheckten Formulierung ab dem 16. November 2001 endgültig aus dem Schneider.

Aber Silverstein wollte ja gar nicht aus dem Schneider sein.

Silverstein wollte New York wieder aufbauen.

Und obwohl es sachlich keine Argumente für seine Riesenforderung von 7,1 Milliarden Dollar gab, machten sich die Anwälte der Gegenseite Sorgen wegen der anstehenden Prozesse. Grosse Sorgen – nicht wegen der Sache selbst. Sie wussten, dass sie recht hatten, aber das „recht haben“ und „recht bekommen“ in der Wirklichkeit oft nichts miteinander zu tun haben, weiss niemand besser als Anwälte. Ihre Sorgen galten vielmehr dem Verhandlungsort und denen, die über die Klage zu entscheiden hatten: Dem Richter, der Jury und der öffentlichen Meinung in New York.

 

Würde Silverstein gewinnen, stünden 7,1 statt 3,55 Milliarden Dollar zur Verfügung, um New York wieder aufzubauen. Welcher New Yorker Geschworene würde nicht all dieses Geld haben wollen, damit es zum Wiederaufbau seiner vom Terror erschütterten Stadt beitrüge, insbesondere, da die Mittel von einem Haufen anonymer Versicherungsgesellschaften kommen würden, von denen einige, wie (Ostragers) Mandant (die Schweizer Rückversicherung), nicht einmal amerikanisch waren? (Brill, ebd., 513)

 

Im Juli 2002 kam es zu einer ersten Anhörung vor einem New Yorker Gericht. Die Parteien gingen mit der richterlichen Aufforderung wieder auseinander, ihre „Schmerzgrenzen“ schriftlich zu benennen und ihre Argumente kurz zusammenzufassen.

Im August hatten die Kontrahenten das erledigt und trafen sich erneut vor Gericht.

 Der Brancheninformationsdienst Transkura fasste die Lage nach einem Bericht der New York Times wie folgt zusammen:

 

Silverstein hat den Wert der zerstörten Gebäude auf 5,7 Milliarden Dollar beziffert. Hinzu kommen weitere 2,5 Milliarden Dollar für Geschäftsausfälle, so dass er den Gesamtwert der Verluste auf 8,2 Milliarden Dollar schätzt. Diese Zahlen hat die »New York Times« genannt.

Dagegen hat die Swiss Re ganz andere Vorstellungen vom Wert des World Trade Centers. Silverstein »könne unter keinerlei Umständen jemals mehr als 3,5 Milliarden Dollar an Versicherungszahlungen erhalten«, erklärte die Versicherung. Der unabhängige Immobilienschätzer Pearson Partners habe den tatsächlichen Barwert des Komplexes auf 2,156 Milliarden Dollar geschätzt.

(...)

»Silverstein hatte uns erzählt, die Immobilie sei einschließlich Geschäftsunterbrechungs-Versicherung fünf Milliarden Dollar wert. Er hatte sich geweigert, den Preis für diese Summe zu bezahlen und kaufte nur eine Deckung von 3,5 Milliarden Dollar«, erklärte Jacques Dubois, Chef der Swiss Re America Holding Company. Silverstein wolle den Fehler jetzt mit neuen Werten wieder ausbügeln.

Wie weit beide Seiten noch aus einander liegen, zeigen die Vergleichsvorschläge. Swiss Re hat nach Angaben der »New York Times« vom Freitag 1,8 Milliarden Dollar offeriert und Silverstein wollte 5,7 Milliarden Dollar haben.

 

Eine Einigung war damals nicht in Sicht – wie hätte sie auch in Sicht sein sollen, da die Positionen so überaus deutlich unvereinbar waren und es weiterhin sind. Fest stand an diesem Tag im August 2002 nur, dass es Verhandlungen über Verhandlungen geben würde. Die ersten fanden Ende 2002 statt, weitere folgten 2003 und weitere weitere werden folgen. Aber dank Stephen Brill wissen wir, wie das Ganze ausgehen wird: Silverstein wird einige Vorverhandlungen verlieren, trotzdem wird die Hafenbehörde am Ende „das Handtuch werfen“ und eingestehen müssen, dass die gleiche Fläche an Büroraum nicht wieder wird entstehen können. Damit ist der Weg frei für Silversteins Entwürfe, die bereits in den Schubladen seiner Architekten liegen und die alle Beteiligten überzeugen werden. Silverstein wird sich am Ende im Rahmen eines aussergerichtlichen Vergleichs mit ungefähr 3,55 Milliarden zufriedengeben, ohne verpflichtet zu sein, etwas Neues zu bauen. Nach diesem Sieg auf der ganzen Linie, der nur für Ahnungslose nach einem Erfolg der Versicherungen aussehen wird, endet das Ganze dann circa Anfang 2005 genau so:

 

Anschliessend wird (Silverstein) mit der Hafenbehörde und seinen Gläubigern aushandeln, die 3,55 Milliarden aufzuteilen, der Hafenbehörde etwa 1.5 Milliarden zahlen, wie sein Vertrag vorzuschreiben scheint, und den Gläubigern und anderen weitere 800 Millionen Dollar. Auf diese Weise bliebe ihm am Ende ein Überschuss von einer Milliarde für sich und seine Partner, bei ursprünglich investierten Eigenmitteln von etwa 125 Millionen. Statt den Gewinn jedoch einzustecken, wird er eine neuen Vereinbarung mit der Hafenbehörde aushandeln, lediglich seine ursprünglichen 125 Millionen einbehalten und den Rest wieder einbringen, um den im Entwurf seines Architekten vorgesehenen Bürogebäudekomplex zu bauen. Daraufhin besässen er und seine Partner diese neuen Bürotürme, frei von der ursprünglichen eigenen Investition (und) die Hafenbehörde könnte mit  den eingenommenen circa 1.5 Milliarden Versicherungsdollars die entgangenen Mietzahlungen aufgrund des neuen Abschlusses über weniger Bürofläche ausgleichen (...) (Brill, ebd. S. 550)

 

Na, prima. Also wird alles „Peace, Joy and Eggcake“ sein, ausser bei den Versicherern - aber denen werden die eher simpel gestrickten Massenmedienvertreter nach raschem Überfliegen von Silversteins PR-Mappen (inklusive aller schillernden Turm-Designs) öffentlich unter die Nase reiben, sie wären angesichts der geforderten 7,1 Milliarden ja wohl noch mal mit einem blauen Auge davongekommen und sollten sich lieber beim Kläger bedanken, statt weiter rumzunörgeln.

Völlig untergehen wird bei all der Begeisterung, bei den Handshakes, Spatenstichen und Schlüsselübergaben, was Ihnen bei dieser Betrachtung von lauter Fakten, die sie vermutlich nicht kannten, aufgefallen ist. Nämlich, dass etwas ganz Wesentliches eben nicht stattgefunden hat: die Untersuchung der merkwürdigen Begleitumstände dieses Versicherungsfalls.

Am Stammtisch würde man spätestens jetzt bloss noch sinngemäss konstatieren: „Mensch, wenn der Vermieter und der Mieter beide was von dem Schaden haben, alle Gewinn machen und am Ende ein schöneres Haus dasteht – was willste da jammern? Und: was willste da machen, wenn die Hand in Hand marschieren? Ausserdem, wem schadet das schon? Trifft doch die richtigen! Trifft doch bloss die Versicherungen, und die bescheissen doch sonst sowieso, wo sie können.“

Wäre die Bruchbude leer gewesen, könnte man an dieser Stelle einfach „Prost“ sagen. Aber in diesem Fall hat es eben nicht nur Versicherungen getroffen: in der Bruchbude, die unter überaus eigenartigen Umständen abfackelte, waren Menschen. Sehr viele unschuldige Menschen, die sterben mussten. Ihretwegen hätte man auf die Untersuchung nicht verzichten dürfen.

 

Bloomberg und alle anderen würden es als perfektes Ineinanderfliessen wirtschaftlicher und politischer Interessen preisen.

Jedermann wäre glücklich. (Brill, 550)

 

Obwohl es sich bei all dem, was wir im Zusammenhang mit dem 11. September beobachten können (wenn auch nicht beachten sollen) tatsächlich um ein bemerkenswertes Miteinander wirtschaftlicher und politischer Interessen handelt, erscheint mir die zufriedene Schlussfolgerung einigermassen obszön.

Andererseits ist es gut zu wissen, dass einem all diese Fakten und Kopfschmerzen verursachenen Überlegungen von fürsorglichen Politikern und Medienvertretern vorenthalten werden. Es führt ja zu nichts. Ist doch alles viel zu kompliziert.

Mit leichtem Aufstossen als Auftakt intonieren wir daher im Chor: „Ich hatte schon sechs, aber zapfst du mir noch eins, Werner?“

 

Ó Christian C. Walther 12/2003

 

Buchtipp:  Stephen Brill, After – The Defending and Rebuilding of America in the September 12 Era

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