Mathias Bröckers: Das sogenannte Übernatürliche, Eicborn Verlag 1998, Auszug aus dem  7. Kapitel

Der Weg nach Eleusis
Über die Geburt der Metaphysik aus dem Geist des Mutterkorns

„Ich ist ein anderer“ (Arthur Rimbaud)
„Ich ist ein Verbum“ (Buckminster Fuller)

Das Mysterium von Eleusis war eines der bestgehüteten Geheimnisse der Antike. Fast zwei Jahrtausende lang, bis zur Zerstörung des Tempels durch christliche Barbaren im 3. Jahrhundert, zogen Wallfahrer jedes Jahr im September auf der Heiligen Straße von Athen nach Eleusis, fasteten und umtanzten den der Göttin Demeter geweihten Brunnen im Vorhof des Heiligtums. Die Nacht verbrachten sie in der Mysterienhalle, einem großen fensterlosen Saal. Priester bereiteten einen „heiligen Trank“, den die Teilnehmer gemeinsam zu sich nahmen - und dann geschah es. Eine so unmittelbare und unaussprechliche Erfahrung, daß sie nur „geschaut“, aber nicht ausgesprochen werden durfte - bei strengen Strafen war es verboten, über das Erlebte zu berichten. Über zwei Jahrtausende haben sich die in Eleusis Initiierten daran gehalten, die Philosophen Sokrates, Platon oder Aristoteles, der Tragödienautor Sophokles – sie waren, wie alle griechisch sprechenden Menschen ihrer Zeit, mindestens einmal im Leben  nach Eleusis gepilgert. Sophokles schreibt: „Dreifach glücklich sind jene unter den Sterblichen, die, nachdem sie diese Riten gesehen, zum Hades schreiten; ihnen allein ist dort wahres Leben vergönnt.“
Ehrfurchtgebietende, dunkle Äußerungen wie diese liegen in großer Zahl vor, doch was sie rechtfertigte, welche Offenbarung die Teilnehmer derart überwältigte, daß sie selbst den Tod für überwunden glaubten - dieses Geheimnis blieb auch nach dem endgültigen Niedergang der athenischen Kultur im 4.nachchristlichen Jahrundert verborgen. Selbst römische Kaiser wie Marc Aurel und Hadrian, die zu den Eingeweihten zählten, hielten sich an das Schweigegebot, und von Cicero, der  nach Eleusis gepilgert war, ist gleichfalls nur eine raunendes Zeugnis überliefert: „Nicht nur haben wir dort den Grund erhalten, daß wir in Freude leben, sondern auch dazu, daß wir mit besserer Hoffnung sterben..“ Tausende von Büchern über die Mythologie Griechenlands wurden seitdem geschrieben, hunderte von  Abhandlungen über die eminente Bedeutung der dionysischen Kultur und der eleusischen Riten verfaßt - doch was im Zentrum dieses Mysteriums stand, blieb bis in unsere Tage ein Rätsel.

Erst Ende der 70er Jahre gelang es in interdisziplinärer Zusammenarbeit, das Geheimnis zu lüften: Der Ethnobotaniker Gordon Wasson, der Pharmakologe und Chemiker Albert Hoffmann sowie der Altertumsforscher Carl Ruck identifizierten den „heiligen Trank“ als Zubereitung eines halluzinogenen Pilzes, des „Claviceps purpurea“, der im deutschen „Mutterkorn“ genannt wird und als Parasit auf der Gerste und anderen Getreidearten wächst. Der Pilz enthält die Wirkstoffe des LSD, des stärksten bekannten Halluzinogens, das Albert Hoffmann 1943 zufällig entdeckte, als er mit den Alkaloiden des Mutterkorns experimentierte. In ihrer Studie „Der Weg nach Eleusis“ weisen die Autoren nicht nur nach, daß die gewaltige visionäre Wirkkraft des „heiligen Tranks“ in Eleusis höchstwahrscheinlich auf eben dieses Mutterkorn zurückzuführen ist, sie belegen auch, wie eng dieser Pilz mit dem Mythos der Demeter, der Erdgöttin verflochten ist.
„Jedes Jahr wandelten neue Kandidaten für die Initiation auf jener Heiligen Straße nach Eleusis, Menschen aller Klassen, Herrscher und Prostituierte, Sklaven und Freie. Jeder Schritt auf dem Weg erinnerte an den Aspekt eines alten Mythos, der erzählte, wie die Erdmutter, die Göttin Demeter ihre einzige Tochter verloren hatte, die beim Blumenpflücken von ihrem Bräutigam, dem Herrn des Todes, geraubt worden war. Wenn die Pilger in Eleusis ankamen, tanzten sie bis tief in die Nacht bei dem Brunnen, an dem Demeter um ihre verlorene Persephone geweint hatte. Sie tanzten zu Ehren dieser beiden Göttinen und ihres geheimnisvollen Gatten Dionysos. Dann durchschritten sie die Tore in den Festungsmauern, hinter denen, abgeschirmt von profanen Blicken, das große Mysterium von Eleusis stattfand. Die antiken Schriftsteller geben einmütig an, daß im großen „Telestrion“, der Initiationshalle im Inneren des Heiligtums, etwas zu sehen war. Soviel durften sie immerhin sagen. Die Halle war jedoch, wie man heute anhand archäologischer Reste rekonstruieren kann, völlig ungeeignet für Theateraufführungen. Was man dort zu sehen bekam, war kein Spiel von Schauspielern, sondern, in Platons Worten, „phantasmata“, eine Reihe geisterhafter Erscheinungen. Selbst ein Dichter konnte nur sagen, er habe den „Beginn und das Ende des Lebens gesehen und erkannt, daß sie eins seien“.
Ähnlich ehrfürchtiges Stammeln erlebte Gordon Wasson in den 50er Jahren, als er die religiösen Rituale mexikanischer Indianer erforschte. Im Mittelpunkt ihres Kults steht die Einnahme eines als heilig verehrten Pilzes, dessen halluzinogener Wirkstoff Psilocybin eng mit denen des Mutterkorns verwandt ist. Ähnlich wie das Meskalin des Peyote-Kaktus, den andere mexikanische Stämme als sakrale Droge verwenden, oder der Wirkstoff des Fliegenpilzes, dem „Soma“ der archaischen Priester-Schamanen in Sibirien und Indien. Die übereinstimmenden Berichte, auf die der Pilz - Ethnologe Wasson bei diesen Völkern stieß - der Pilz als „Draht“ zur Kommunikation mit dem Übernatürlichen - ließen ihn schon damals vermuten, daß auch das klassische Griechenland in seiner rituellen Festung Eleusis Halluzinogene verwandte. Doch die Altertumsforscher, die er daraufhin ansprach, taten seine Vermutung als völligen Unsinn ab. Das „Gesehene“, von dem die Initiierten berichten,  hielten sie für kultische Gegenstände, den „heiligen Trank“ für Wein: nach herrschender Meinung wurde den Pilgern in Eleusis eine sakrale Theateraufführung zuteil, eine Art Oberammergau antik. Selbst wenn ein einfacher griechischer Hirte durch ein solches Mysterienspiel und einen Schluck Wein durchaus zu beeindrucken gewesen sein mag,   städtische Intellektuelle wie Platon oder Cicero dürften davon aber kaum derart berührt worden sein. Mit Theater und „Show“ waren sie ebenso vertraut wie mit Musik, Tanz und berauschenden Getränken. Dem Wein bei ihren Gelagen und Symposien war häufig Opium zugesetzt, Rausch und Ekstase waren im Griechenland dieser Epoche alles andere als unbekannt. Genauso wenig ist zu erwarten, daß die Philosophen und Schriftsteller ihren kritischen Verstand freiwillig an der Garderobe des eleusischen Tempels abgaben – nein, sie mußten dort etwas erlebt haben, was selbst den kynischen Schandmäulern die Sprache verschlug.
Zu Hilfe bei der Aufdeckung des Rätsels kam  ein öffentlicher Skandal im Athen des Jahres 415 v.Chr., von dem in fragmentarisch erhaltenen Prozeßakten die Rede ist: Das eleusische Geheimnis war profanisiert worden, aristokratische Bürger hatten ihren Gästen den visionären Trank als Partyvergnügen angeboten und mußten sich dafür vor Gericht verantworten. Einer der Angeklagten war der ruhmreiche Heerführer Alkibiades, der sich nach Sparta absetzte, als man ihn von seinem Kommandeursposten bei der Schlacht von Syrakus zum Prozeß nach Athen zurückbeorderte. Er wurde in Abwesenheit verurteilt und sein  gesamter Besitz  beschlagnahmt. Doch es sind nicht nur diese Spuren antiker Acid-House-Parties, auf die sich der Autoren bei ihrer Beweisführung berufen, sie zeigen auch, daß die Bedeutungstruktur des Demeter-Mythos auf das Geheimnis psychoaktiver Pflanzen verweist. Es sind keine einfachen Blumen, die Persephone pflückt, als sie ins Reich der Toten entführt wird, es ist der hundertköpfige Narkissos, eine Drogenpflanze. In „Der Weg nach Eleusis“ heißt es dazu:
„Es besteht kein Zweifel daran, daß es sich beim Raub der Persephone um einen drogeninduzierten Anfall handelt. Dieser Umstand ist von den Altertumsforschern nie beachtet worden, obschon er aufgrund unseres Wissens über die Religionen der vorgriechischen Ackerbauvölker absolut zu erwarten ist. Das Zentrum dieser Religionen war der Zyklus von Tod und Wiedergeburt in der Pflanzen- und Menschenwelt. Die Frau war die Große Mutter und die ganze Welt ihr Kind. Das grundlegende Ereignis in diesen Religionen war die Heilige Hochzeit, durch welche die Priesterin mit dem Geisterreich im Inneren der Erde kommunizierte, um den Neubeginn des Ackerbaujahrs, des Lebens, zu bewirken. Ihr Gegenstück war ein Vegetationsgeist; er war sowohl ihr auf der Erde wachsender Sohn als auch der Gemahl, der sie in die befruchtende andere Welt entführte. Unter dem Namen Dionysos überlebte der als Gatte der Muttergöttin assimilierte Zeus bis in die klassische Periode hinein.“
Nicht der dionysische Wein, sondern der psychedelische Gerstentrank der Erdgöttin Demeter stand im Zentrum der griechischen Religion – dieser Befund von Wasson, Hofmann und Ruck rückte die gesamte Fachliteratur zu Eleusis in ein völlig neues Licht. Und stempelte all jene Interpretationen, die die tiefgreifende Erfahrung der Initianten auf irgendein beeindruckendes Mysterienschauspiel zurückführten, wenn nicht zur Makulatur, so doch auf das Niveau von Theorien etwa über das Flughafenwesen, denen völlig verborgen geblieben ist, daß der Zweck  Einrichtungen im Reisen besteht.    Natürlich waren die rauschhaften, ekstatischen Elemente  der Demeter- und Dionysos-Rituale keinem Historiker verborgen geblieben, den antiken Interpreten so wenig wie den Wiederentdeckern der hehren Hellenen  in der europäischen Klassik. Für Nietzsche steht und fällt sogar die gesamte Kultur mit der Wiederbelebung des Dionysischen, doch so ahnungsvoll er sich als Psychologe hier erwiesen haben mag, so wenig bestand zu seiner Zeit die Möglichkeit einer empirisch-wissenschaftlichen Erforschung „dionysischer“ Bewußtseinszustände und pflanzengebundener Ekstasen. Den Grundstein dafür legte erst der Berliner Pharmazie - Professor Louis Lewin, der  1924 mit seinem Werk „Phantastica“ eine erste systematische Erfassung der „betäubenden und erregenden  Genußmittel“ versuchte. Die oft anekdotischen Berichte über die bewußtseinsverändernden Wirkungen dieser Pflanzen konnten erst in den folgenden Jahrzehnten einer genaueren wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen werden, als nach und nach die Alkaloide, die chemischen Wirkstoffe, von  Meskalin, Peyote und „heiligen Pilzen“ identifiziert wurden. Ihre eigentliche Bedeutung aber läßt sich erst seit den 70er Jahren ermessen, als die Gehirnforscher die Rolle der Neurotransmitter für unsere Bewußtseinszustände – die bio-chemische Steuerung des Gehirns durch drogenähnliche Botenstoffe - entdeckten. Bis dahin  blieb den  Kultur- und Religionsgeschichtlern also kaum etwas anderes, als angesichts des heilige Trank von Eleusis, sowie des schamanistischen Pflanzengebrauchs im allgemeinen, in Rätselraten und Mutmaßungen zu verfallen. Auf diesem Hintergrund hätte die Arbeit von Wasson, Hofmann und Ruck eigentlich wie eine Bombe einschlagen müssen, de facto aber blieb sie, abgesehen von ein paar journalistischen Rezensionen, in Wissenschaftskreisen nahezu unbeachtet. Daran haben weder das große Renomee der Autoren in ihren jeweiligen Fachgebieten, noch die solide Argumentation und Faktenlage etwas geändert, ihr heißes Eisen – die Fundierung des griechischen Geisteslebens, und damit der abendländischen Kultur, in einer mystischen Drogenerfahrung –  glüht bis heute im Verborgenen. Ist es wirklich ein Skandal, in das Zentrum des Metaphysischen, Übernatürlichen, Göttlichen eine Ausgeburt des „Reichs des Bösen“ – die Droge – zu stellen und den profanen Genuß einer Pflanzensubstanz  als Quelle des Heiligen zu identifizieren ?Genau betrachtet räumt das LSD-Mysterium von Eleusis  dem antiken Griechenland  gar keine Sonderstellung ein.  Im Gegenteil: Es verbindet die Kulturgeschichte des Abendlandes mit der Kultur- und Religionsgeschichte anderer Erdteile, denn überall auf der Welt haben die Völker für den Blick über den Zaun von Raumzeit und Sterblichkeit auf die Hilfe von Pflanzen zurückgegriffen
 

 
 

(....) Auszug  aus dem  siebten Kapitel

Copyright: Eichborn-Verlag, 1998
 

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Mathias Bröckers: Das sogenannte Übernatürliche
Die Intelligenz der Erde - Aufbruch zu einem neuen Naturverständnis
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