Wolfgang Neuss: Neuss Deutschland

Über Wolfgang Neuss (1923 -1989) – den wachsten und witzigsten Menschen, den ich je kennenlernte

“An jenem Tag im Frühjahr 1943, als Professor Albert Hofmann in Basel das LSD entdeckte, schoß ich mir bei dem weißrussischen Ort Rshew in meine linke Hand,” antwortete Neuss Mitte der 80er Jahre auf die Journalistenfrage nach dem wichtigsten Ereignis in seinem Leben – und streckte dem Kollegen die zeigefingerlose linke Hand entgegen: “Symbol für Kunst statt Krieg. Selbstverstümmelung war und ist eine gute Friedensbewegung !”.

Zuvor hatte man den Schlachtergesellen und MG-Schützen Hans Otto Wolfgang Neuss nach einer Verwundung mit dem EK 1 ausgezeichnet. Doch er wollte zurück ins Lazarett, Verwundeten Witze erzählen. “Die Feigheit brachte mich zum Fortschritt.” Mit 14 war er aus Breslau nach Berlin abgerückt, um Clown zu werden, der Ausflug endete auf der Wache am Bahnhof Zoo. Jetzt, im Lazarett und später im Internierungslager, versuchte er sich als als Truppenbetreuer bei bunten Abenden: “Ich merkte, daß ich Witze besser erzählen konnte als die, von denen ich sie hatte.” Nach der Entlassung tingelt er als “Hansi Neuss” (der “Wolfgang” kam erst ab 1950) mit einem Leiterwagen und einem Geiger durch norddeutsche Gasthöfe, das “Reichs Kabarett der Komiker (ReKaDeKo)” gibt das Programm “Lachkalorien” – Gagenminimum: ein Abendessen. Neuss conferiert, spielt Sketche, reißt Witze, ein US-Kontrolloffizier drückt ihm Tucholsky in die Hand – und legt mit dieser reeducation den Grundstein zu einer beispielhaften deutschen Karriere.

“Wolfgang Neuss ist tot, reden wir über die Weltliteratur”

“Wolfgang Neuss ist tot, reden wir über die Weltliteratur” schrieb Matthias Beltz 1989 in seinem Nachruf auf den Kabarett- Meister. Das war schon damals kein Witz, beziehungsweise einer, der es in sich hatte – jetzt, wo seine Gesammelten Werke erschienen sind, läßt sich das auch für Außenstehende ermessen. Der kleine Mann aus Breslau, der in den 50ern zu d e r Berliner Großschnauze wurde, der vom Filmstar und Playboy zur Instanz des politischen Kabaretts mutierte, vom trällernden Räuber aus dem “Wirtshaus im Spessart” zum Schrecken Adenauerscher Rundfunkräte, vom komischen Knallchargen zum Lautsprecher der APO, und dann, vom Anmacher und Unruhestifter zum Aussteiger, Haschisch-Orakel und Meditationsmeister – dieser “Zwerg Mundwerk”, wie ihn die FAZ einst titulierte, war nicht nur ein Hanf Dampf in allen Gassen.

Wolfgang Neuss hat auch ein Werk hinterlassen, das große Kunst genannt werden muß, auch wenn man hierzulande dafür nur den deutschen Kleinkunstpreis (5000 Mark, 1983) übrig hatte. Viele seiner Schüler und Adepten, allen voran der hochdekorierte Wolf Biermann, dem Neuss einst die erste West-Tournee ermöglichte, wurden vom Kulturbetrieb da ganz anders bedacht. Wenn jemand wirklich gute Witze macht, sitzt eben immer noch halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel – Neuss war zu roh, zu radikal, zu rebellisch, um als saturierter Literat zu enden. Und zu konsequent, um nach seinem Rückzug von der Bühne Mitte der 70er als angepaßter Alter Ruhe zu geben. Da ging er lieber zum Sozialamt, schnorrte Kollegen und Freunde an und grüßte – zahnlos, aber bissig – als “Drogenwrack aus Charlottenburg”. Und wenn man ihn fragte, woran er gerade arbeite, antwortete er: “An mir.”

“Ich rauche den Strick an dem ich hängen würde”

Was der Neuss denn so mache, wo er denn stecke, das war, so die “Zeit” 1974, “jahrelang die nationale Frage”. Für Medienskandale sorgte während dieser Zeit allenfalls sein Aussehen, daß die Journaille unter “Zahnloses altes Weib” oder “Indiandersquaw” und zur Moritat ‘Vom Superstar zum Kellerkind` auschlachtete. Daß dieser frischfrechfröhliche Mann mit der Pauke und Tausendsassa der Medien, die Schandschnauze der Nation sich so einfach zurückzog und schwieg, wollte niemand so recht verstehen. Dabei tat er nichts anderes, als den Protest zu leben, den er zuvor hinausgeschrieen hatte: der schnieke Playboy und “Jaguar E” – Fahrer übte Konsumverzicht, verschenkte seine Habe und ließ sich statt im Luxus-Penthouse auf dem Meditationskissen einer leeren Zweizimmerwohnung nieder. Und er kurierte seine 20-jährigen Tabletten-und Alkohol-Orgien mit Cannabis: “Ich rauche den Strick an dem ich hängen würde”, verkündete er und wurde nicht müde, den Hanf als Medizin für Körper und Geist zu preisen.

Ich habe nie recherchiert, ob die tapfere “Friedensbewegung” des Humorsoldaten Neuss tatsächlich am selben Tag stattfand wie Albert Hofmanns Zufallsentdeckung des stärksten bekannten Psychedelikums – doch auch wenn das Datum nicht stimmt, bringt es die zwei einschneidenden Ereignisse seines Leben auf den Punkt. Den Schuß in’ s eigene Fleisch, um die Haut zu retten und als Witzbold zu überleben – und die spirituelle Erleuchtung, die ihm Anfang der 70er Jahre durch LSD zuteil wurde. Und die selbst dem Großmaul und Lautsprecher erstmal die Sprache verschlug: “Stell Dir vor, ganz Frankfurt entdeckt, daß der Mensch ein geistiges Wesen ist und überlebt. Die Leute bringen sich um vor Glück.(…) Nicht ungefährlich, denn Du kannst Dir vorstellen, was passiert, wenn Frau Müller aus Neukölln plötzlich entdeckt, daß sie mit zum Göttlichen gehört. Die springt vor Glück fünf Meter in die Luft, und es gilt darauf zu achten, daß sie weich landet. Darauf hat Dr. Hofmann immer wieder hingewiesen: Was auch passiert, Du bleibst sitzen. (…) Und wenn Du sitzenbleibst kriegst Du mit, wie die wirkliche Kommunikation funktioniert: schweigend.”

Diese geistige Aufrüstung war das, was Neuss der martialischen Aufrüstung der 68er Kulturrevolution zur RAF entgegensetzte – das Morden und Brandschatzen hatte er hinter sich. “Das letzte Mal war´n die späteren RAF-Leute bei mir nach der Baader-Befreiung und sagten: ‘Wolfgang, du mußt uns helfen, wir brauchen dein Auto.’ Ich hab gebrüllt: ‘ Seid ihr wahnsinnig’ und nicht mitgemacht – leider, wie man heute sagen muß. Denn wäre ich Wahnsinniger damals eingestiegen, hätte das ganze Abenteuer keine drei Tage gedauert.” Ein Foto von Ulrike Meinhof und ihren Zwillingen hing dennoch bis zum Schluß in seinem zu einer einzigen Pinwand ausgewachsenen Zimmer. Für Neuss kam als Konsequenz aus der Radikalität der 60er Jahre kam nur das Abenteuer der Selbstfindung in Frage. Und als er wieder auftauchte, aus der inneren Versenkung, bricht er sein Schweigen mit Worten, die den alten Freunden irre und bizarr vorkommen. “Rauch nicht so viel von dem Zeug” mahnte Uwe Johnson, bevor er sich langsam totsoff. Daß kein Biermann oder Enzensberger, kein Hildebrandt, Hüsch oder ein anderer Kabarett-Kollege es ihm nach tat und asketisch auf der Meditationsmatte Platz nahm, um Einblicke ins Rad der ewigen Wiederkehr zu erhaschen, daß ihm kein Wolfgang Müller (sein Kabarett – Partner in den “goldenen” 50ern, der mit dem Flugzeug abstürzte) nachwuchs, nahm er keifend und zeternd übel.

“Wir müssen Hitler so lange wiederholen, bis er ein Hit ist ….ab 5 Uhr 45 wird zurückgelächelt.”

Ganz anders aber die Texte, die Neuss fortan produziert: immer noch der blitzschnelle Assoziations-Artist und Kalauer-König (“Die Nordsee ist umgekippt – hat mal jemand nen Lappen?”), aber er schöpft nicht mehr aus dem “Anti”, der Negation, dem permanenten Protest. Statt wie einst den Gegner mit verbalem Schnellfeuerbeschuß niederzumähen, übt sich der späte Neuss in der Zen – Politik der Umarmung, im “an die Wand lieben”: “Wir müssen Hitler so lange wiederholen, bis er ein Hit ist ….ab 5 Uhr 45 wird zurückgelächelt.”

Als ich die ersten Texte des “neuen” Neuss – “Freiwillige Selbstkontrolle”und “Happy End Auschwitz” – zu lesen bekam, richteten wir ihm 1982  im “taz”-Feuilleton sofort eine Kolumne ein. Und er sprach mir wöchentlich seinen aberwitzigen, buddhadaistischen Monolog auf Band, in dem Lokalklatsch und Globalstrategie, Privatclinch und Weltkrieg, Kleinkunst und Großkultur, Tagesaktualität und Ewigkeit auf holographische Art kollidierten. Spritztig, witzig und weise. Klaus Theweleit, Chef-Analytiker deutscher Männerphantasien, hat Neuss’ “genialen Zeilen” zum Faschismus später zitiert – neben Benn, Jünger, Pound, Hamsun, Elvis, im “Buch der Könige”. Da gehört er hin, der Neuss, als Schlachtergeselle zu den Dichterkönigen, als deutscher Trommler neben den Rock`n Roll King. Paradebeispiel für einen, der nicht Faschist geworden ist (oder, wie Elvis, als Drogenwrack zu den Narcs überlief).

“Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen”

“Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen” entbot er Richard von Weizsäcker bei seinem legendären Talkshow – Auftritt 1983 zum Gruße – der Spruch war ihm am Nachmittag auf einer Glückwunschkarte zum 60. Geburtstag zugeflogen, von einem Fan aus dem Knast. Ihn gleich am Abend vor einem Millionen-Publikum als Appell an “Häuptling Silberlocke” zu bringen, war nicht nur typisch für die Neussche Methode, es brachte auch das Phänotypische dieser deutschen Biographie auf den Punkt. Nicht den typischen Oberleutnant, mit Oberwasser unter aller Regimen, sondern einen deutschen Schweijk und Torpedokäfer: “Ich hab nie aufgehört von unten anzufangen.”

Die gesammelten Werke des Wolfgang Neuss präsentieren nicht nur die Geschichte eines einzigartigen Künstlers, sondern auch eine einzigartige Geschichte dieser Republik, gesehen von einem ihrer wachesten Zeitgenossen. Sie tauchen wieder auf, die militärischen Vierziger (“Herr Oberst, habe zehn Gefangene gemacht – Na bringen Sie sie her! – Geht nicht, sie halten mich fest”) , die Fünfziger des Wirtschaftswunders und der Wiederbewaffnung, der Adenauers und Erhardts, die Pinscher und Piefkes (“Die von der CDU werden noch so lange machen, bis der liebe Gott aus der Kirche austritt” ) und die Protest- und Aufbruchsära der Sechziger, die Neuss mit seinen über Jahre ausverkauften Solo-Programmen – “Das jüngste Gerücht”, “Neuss Testament” und “Asyl im Domizil” – entscheidend anblies (“Wir können hier richtig deutsch diskutieren, wir haben Verbandszeug im Hause“). Volker Kühn hat die wichtigsten Texte aus vier Jahrzehnten, darunter auch die Drehbücher zu den Filmen “Wir Kellerkinder” und “Genosse Münchhausen” zusammengestellt und um zahlreiche Lebenszeugnisse, Interviews und Bilder ergänzt. Ein wunderbares Buch, daß freilich nicht den “totalen Neuss” enthält, denn der war kein Schreiber, sondern ein Artist des gesprochen Worts, weshalb vieles in diesem Buch aufgezeichnet und abgehört wurde. Insofern bietet der Band, trotz seiner Fülle, nur Momentaufnahmen einer Persönlichkeit, die es in der allmählichen Verfertigung von Pointen beim Sprechen zu unerreichter Meisterschaft brachte. So wie einst Tucholsky den braunen Humorsoldaten Neuss zum kritischen Volksaufklärer transformierte, könnte auch dieses Buch eines Bildungslücke schließen. Im Zeitalter der trostlosen Commedy-Inflation sollte für die Akteure mehr denn je die Maxime des großen Vorsitzenden gelten: “Heut mach’ ich mir kein Abendbrot, heut mach ich mir Gedanken.”

Die gesammelten Werke von Wolfgang Neuss, hrsg. von Volker Kühn, gibt es hier

Hier einige CDs mit seinen klassischen Programmen (bestellen mit Klick auf das Cover):

Zwei seiner großartigen Soloprogramme aus den 60er Jahren,
die Neuss zur absoluten Nr. 1 des deutschen Kabaretts machten.

… ein Häuschen mit Garten” – Der Song aus dem Film
“Das Wirtshaus im Spessart” machte Neuss & Müller
zu Publikumslieblingen

Bis auf den falschen Titel – Neuss war der Mann mit
der Pauke (!) – eine tolle Doppel-CD mit dem
Lieblingskomiker der Wirtschaftswunder-Deutschen

Der erste Punker und der letzte Hippie der Republik:
Neuss’te Wahrheiten aus den 80ern.

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