Gestern abend schaute ich “Winnetou”. Es war gewissermaßen Pflichtprogramm und lief erstaunlicherweise ohne Werbung, als ob RTL zum Fest einen Adblocker eingebaut hätte. Karl May war mein erster Lieblingsschriftsteller. Nach Wilhelm Busch und den Brüdern Grimm, die ich vom Vorlesen kannte war das erste Buch, das ich mit 8 oder 9 Jahren selbst und bis zuende gelesen hatte Sammy Drechsels Fußballroman “Elf Freunde müßt ihr sein”. Und danach kam dann bald alles, was von den dicken, dunkelgrünen Karl May Bänden in der Leihbibliothek verfügbar war. Weil wie im Fußball auch bei der Literatur die Regel “Einmal Fan, immer Fan” gilt, ließ ich auch später auf den sächsischen Großepiker nichts kommen, auch und gerade nachdem ich gelernt hatte, dass er seine Reisen durch den Wilden Westen und das wilde Kurdistan nur halluziniert hatte und kritische Germanisten ihn als “Protofaschisten” porträtierten, den auch schon der junge Hitler gut gefunden hätte. Da hielt ich es eher mit Ernst Bloch, der Karl May neben Hegel stellte und in “Erschschaft dieser Zeit” notierte: “Old Shatterhand trägt einen sehr deutschen Bart, und seine Faust schmettert imperialistisch herab.”
Das scheinen auch die Autoren der Neuverfilmung gelesen zu haben, denn dort fragt Winnetou den zum Eisenbahnbau ins Apatschen-Land gekommenen Deutschen, warum er eigentlich einen Schnauzbart (“Gestrüpp unter Nase”) trage. Nicht zufällig ist der zum Anti-Imperialismus und Völkerverständigung neigende Indianerfreund Shatterhand am Ende dann so glatt rasiert wie weiland Lex Barker in den 1960ern. Diese Filme gehörten damals ebenfalls zum Pflichtprogramm, wurden Kult taugen heute aber allenfalls noch zu Nostalgiezwecken. Von daher hatte ich von einer Neuverfilmung eher wenig erwartet und war dann sehr angenehm überrascht, wie dem alten Stoff ein irgendwie neues, zeitgemäßes Leben eingehaucht wurde.
Da wünscht man sich fast, dass nach dem humanistischen Indianderfreund Shatterhand alsbald auch der Orientexperte Kara Ben Nemsi einer Neuinszenierung unterzogen wird. Denn auch wenn man das christlich-pazifistische Weltbild des Maysters, seine Hoffnung dass von “der Liebe dem Hasse das Schwert aus der Hand gewunden wird”, als naiv abtun kann – seine Expertise zur “orientalischen Frage”, die mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches Ende des 19. Jhds. und Aufständen auf dem Balkan und in Asien das große geopolitische Thema der Zeit war, in der May diese Romane schrieb, scheint angesichts eines “Islamischen Staats” und eines Sultans Erdogan durchaus wieder aktuell.
In “Von Bagdad nach Stambul” fragt Sir David Lindsay Kara Ben Nemsi nach seiner Ansicht zur Lage im Mittleren und Nahen Osten und Karl May holt zu einer längeren Lektion aus, die in einer durchaus weihnachtlichen Predigt mündet:
“Ich habe mich niemals leidenschaftlich mit Politik beschäftigt, und die orientalische Frage ist mir gar ein Greuel. Wer sie erst definieren kann, der mag sie danach lösen. Sie und der sogenannte „kranke Mann“ haben mich selbst in der lebhaftesten Gesellschaft stets zum sofortigen Schweigen gebracht. Ich habe nicht politische Medizin studiert und kann also nicht sagen, an welcher Krankheit dieser Mann leidet; aber ich meine sehr, daß grad ganz in seiner Nähe Zustände herrschen, welche ich nicht gesund nennen möchte. Der Türke ist ein Mensch, und einen Menschen macht man nicht damit gesund, daß die Nachbarn sich um sein Lager stellen und mit Säbeln ein Stück nach dem andern von seinem Leibe hacken, sie, die sie Christen sind. Einen kranken Mann macht man nicht tot, sondern man macht ihn gesund, denn er hat ein ebenso heiliges Recht, zu leben, wie jeder andere. Man entzieht seinem Körper die Krankheitsstoffe, welche ihm schädlich sind, und reicht ihm dagegen das Mittel, welches ihn heilt und wieder zu einem leistungsfähigen Menschen macht. Der Türke war einst ein zwar rauher, aber wackerer Nomad, ein ehrlicher, gutmütiger Gesell, der gern einem jeden gab, was ihm gehörte, sich aber auch etwas. Da wurde seine einfache Seele umsponnen von dem gefährlichen Gewebe islamitischer Phantastereien, Lügen und Widersprüche; er verlor die Klarheit seines ja sonst schon ungeübten Urteiles, wollte sich gern zurecht finden und wickelte sich desto tiefer hinein. Da ward der bärbeißige Gesell zornig, zornig gegen sich und andere; er wollte sich einmal Gewißheit schaffen, wollte einmal sehen, ob es wahr sei, daß das Wort des Propheten auf der Spitze der Schwerter über den Erdkreis schreiten werde. (…)
Nur ein einziger steht von ferne, mit christlicher Teilnahme im Herzen. Er war ihm einst ein ehrlicher Feind und möchte ihm nun auch ein ehrlicher Freund sein. Er hat eingesehen, daß der Türke ein ebenso großes Recht hat, sein Land zu behalten, wie Preußen sein Schlesien, Sachsen und Hannover behalten hat. Dem Kranken, um welchen die Geier lauern, ist schon der aufrichtige Blick dieses Einen eine Bürgschaft der Genesung, und darum fühlt er sich bereit, ihm zuliebe selbst das zu thun, was er sich von anderen nie erzwingen ließe.
Dieser Einzige ist der Deutsche. Ist dem Germanen wirklich die weltgeschichtliche Rolle zugeteilt, der Träger christlicher Humanität zu sein, so ist er sicher überzeugt, daß Mekka einst veröden wird, wenn die Liebe dem Hasse das Schwert aus der Hand gewunden hat. Oder ist es vielleicht Wahnsinn, zu glauben, daß der Türke ein Christ werden könne? Das hieße nichts anderes, als die Macht des Evangeliums verleugnen.
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Warum aber diese Einleitung? Einfach darum: Ich hasse den Türken nicht, sondern er dauert mich, weil ich ein Christ bin, und es thut mir immer wehe, wenn ich einen Türkenfresser behaupten höre, daß dem Osmanen nicht zu helfen sei. Das ist Pharisäer-Hochmut, aber kein Christensinn. Die Streiter unserer heiligen Kirche besitzen mächtigere Waffen, als Schwerter und Kanonen es sind. Diese Waffen haben Weltreiche ohne Blut erobert. Warum soll diese Eroberung des Friedens nicht still und kräftig weiterschreiten? Das ist die Lösung der orientalischen Frage, wie der Christ sie sich denkt.”
Als gebürtiger und auch langjähriger Radebeuler habe ich natürlich auch eine besondere Beziehung zu Karl May. Mein Vater kannte den ersten Kurator und Museumsleiter Patty Frank noch persönlich und hat mir einige Male von seinen Erlebnissen mit diesem Original erzählt. Von meinem Vater habe ich auch einige Karl-May-Bücher schon früh erhalten, sodass ich schon in jungen Jahren diese Bücher gelesen habe und dabei so ganz nebenbei gleich auch noch die alte deutsche Druckschrift erlernt habe.
Je mehr ich May las, umso mehr beeindruckte mich sein tiefsitzender Humanismus. Exemplarisch sei da nur seine zwei Bände währende Auseinandersetzung mit Old Wabble genannt, in der Old Shatterhand (= May) sich permanent gegen dessen Rassismus, zum Ende hin auch mit den deutlichsten Worten, stellte. Ich vermute sogar, dass das Verstehen dessen auch mich selbst und mein Humanitätsdenken erheblich geprägt haben.
Nicht nur deshalb, aber auch, haben mich die bisherigen Verfilmungen des Karl-May-Stoffs wenig befriedigt. Der Humanitätsgedanke geht da immer fast vollständig unter. Das mag sicherlich auch nicht ganz einfach zu verfilmen sein, das ist sicher richtig. Aber es ist meiner Auffassung nach so grundlegend für das Verständnis von Karl May, dass dadurch eigentlich DER Kernpunkt der Mayschen Aussage verloren geht. May war sicherlich ein “Lügner”, ein “Hochstapler”, ein “liebenswerter sächsischer Phantast”. Aber er war vor allem ein Anti-Rassist, ein Autor, der ständig an das Gerechtigkeitsgefühl seiner Leser appellierte und ihnen ein anderes, besseres Gedankengut nahzubringen versuchte.
Dies, aber auch die fast vollständig fehlende Werktreue haben mich massiv an den bisherigen Verfilmungen gestört. Die 60er-Jahre-(West-)Filme waren für mich ohnehin nur billiger Klamauk, bei dem ich nie nachvollziehen konnte, wie dieser solche Begeisterung auslösen konnte. Die aktuellen 2015er Filme (bislang wurde ja nur der erste gesendet) fand ich zwar deutlich tiefgründiger, aber meine grundlegenden Probleme beim Umgang mit dem Stoff wurden dadurch auch nicht gelöst.
Am gelungensten fand ich die Verfilmung des “Buschgespenstes” von 1986. Deutlich enger am Stoff angelegt. Dennoch ist es auch dort nicht ausreichend gelungen, die stark sozialkritischen Töne von Mays Werk über das Leben im von krasser Armut gezeichneten Erzgebirge herauszuheben. Da ist das Buch deutlich wirkmächtiger. Allein die ersten drei Seiten in Mays Buch sind in dieser Beziehung aussagestärker als der gesamte Film.
Wie gesagt. Man kann Karl May lesen als den Märchenerzähler, der Wild-West- und Oriental-Romantik in den drögen Alltag der Menschen bringen wollte, die zu der damaligen Zeit ihr Lebtag kaum fünf Dörfer weit weg gekommen sind. Man kann May aber auch verstehen als Kritiker, als Ankläger, als Mahner gegen die unterschiedlichsten Ungerechtigkeiten auf der Welt. So, wie ich es mache.