Im Verlauf des öffentlich geführten Dialoges des Kollegen Paul Schreyer mit dem ARD-Journalisten Georg Restle kritisierte dieser die Position des Strafrechtlers und Rechtsphilosophen Prof. Reinhard Merkel, der schon 2014 betont hatte, dass man nicht von einer „Annexion“ der Krim sprechen könne. Restle bezeichnete Merkels Darstellung als „relativierende Einschätzung“, „brandgefährlich“ und „Aufweichung wichtiger völkerrechtlicher Grundsätze“. Da Georg Restle der Bitte, diese massiven Anwürfe zu belegen, nicht nachkam, setzte Paul Schreyer Prof.Merkel davon in Kenntnis – und erhielt eine ausführliche Antwort. Neben präzisierenden Details enthält sie auch ein simplifizerendes Beispiel, mit dem Reinhard Merkel auch Nicht-Völkerechtlern klar macht, warum es sich bei der Abspaltung der Krim nicht um eine völkrerechtswidrige “Annexion” , sondern um eine “Sezession” handelt:
„In unserer Frage geht es im Wesentlichen darum, wem eigentlich die Abspaltung der Krim primär zuzurechnen ist: ihrer Bevölkerung oder dem mit militärischer Drohgebärde anwesenden Russland? Stellen wir uns Folgendes vor: Jemand geht in das Haus eines anderen, hält der 16-jährigen Tochter eine Pistole an den Kopf und sagt ‚Mitkommen!‘, woraufhin die Tochter aus Angst mitkommt. Das ist der klare Fall einer Entführung – wenn Sie so wollen, einer Annexion der Tochter. Wenn nun – mein zweites Modell – jemand in das Haus des Nachbarn geht, wissend, dass dessen Tochter aus dem Haus hinauswill, um zu ihm zu ziehen, und ebenfalls wissend, dass der Hausherr das nach Möglichkeit zu verhindern suchen wird, wenn er also in das Haus dieses Nachbarn geht, dem Hausherrn eine Pistole an den Kopf hält und sagt ‚Du hältst dich ruhig!‘, womit er der Tochter ermöglicht, nach ihrem eigenen Willen mit ihm zu kommen, dann ist sein Verhalten selbstverständlich rechtswidrig – eine Nötigung per Androhung von Gewalt. Aber eine Entführung, eine Annexion, ist es nicht. Und das eben ist grosso modo das (selbstverständlich simplifizierende) Modell für die Krim. Russland hat die Macht des Hausherrn Ukraine blockiert, der verhindern wollte, dass seine Tochter Krim ihn verlässt und zu Russland zieht. Noch einmal: Dass die Tochter Krim zu Russland wollte, setze ich voraus, und warum das begründet ist, habe ich vorhin dargelegt. Russlands militärische Nötigung ist rechtswidrig gewesen; aber eine Entführung, eine Annexion, war es nicht.“
Soweit das auch Nicht-Juristen einleuchtende Beispiel, warum es falsch ist, von einer “Annexion der Krim” zu sprechen. Wenn Journalisten und Politiker dies weiterhin tun verbreiten sie Fake News – und wenn sie Kritik an ihren Fake News als “brandgefährlich” denunzieren betreiben sie Propaganda.
In diese Kategorie scheinen auch die jüngsten “News” über den Abschuß der MH17 über der Ukraine zu fallen, in denen der niederländische Ermittlungsauschuß zwar keine neuen Fakten oder Beweise präsentieren konnten, entscheidene Fragen weiter offen blieben und einmal mehr Bellingkatzenfotos gezeigt wurden, aber für die erneute Beschuldigung einer “russischen Militäreinheit” reicht es allemal.
Nach Ende der Giftgaswochen bei McMedien ist unterdessen der Novichok-Kampfstoff, mit dem die Skripals angeblich um die Ecke gebracht werden sollten, wieder aufgetaucht. Aber dass er keineswegs nur aus Russland stammen konnte, sondern in den 1990er Jahren an zahlreiche westliche Geheimdienste verteilt wurde – und zwar… vom BND! (also von jenen bundesdeutschen Schlapphüten, die 1995 schon einem Schmuggel von Plutonium am Münchner Flughafen erwischt wurden, der im Rahmen der “Operation Hades” Russland in die Schuhe geschoben werden sollte) – das ist dann bei McMedien aber natürlich keine große Nachricht. Am Narrativ vom bösen Russen darf nicht gerüttelt werden. Fragen dazu beantwortet die Bundesregierung nicht – unter Hinweis auf “Sicherheit” und “Staatswohl” bleibt es ein Geheimnis, ob die Regierung davon wußte, dass Novichok keineswegs exklusiv aus Russland kommt, wie es die Briten behaupteten, und ihr eigener Geheimdienst damit hantierte – und dennoch russische Diplomaten auswies.
Auch als Podcast auf KenFM
Mathias Bröckers,
Sie hätten vielleicht recht, wenn die Krim – wie das Kosovo – in einen unabhängigen Staat überführt worden wäre. Die Ukraine hat die Krim aber nicht völkerrechtlich legal abgetreten. Man nennt diesen Vorgang Zession. Dabei hat der Staat, der über das Gebiet allein verfügte, dieses einvernehmlich in einem formellen Vertrag abgetreten; mit ihr tritt die neue Staatsgewalt an die Stelle der alten. Davon kann hier aber keine Rede sein, weil die Rada einen Volksentscheid über die Zukunft der Krim ausdrücklich nicht beschlossen hat (laut Verfassung der Ukraine unbedingte Vorraussteztung für eine Zession). Putin hat sich über die Unterschrift Jezins hinweggesetzt. Im Budapester Memorandum verpflichtete sich Russland (u.a.) gegenüber der Ukraine (u.a.), die Souveränität und die bestehenden Grenzen des Landes zu achten. Selbst der in puncto Russland unverdächtige Jurist Gregor Gysi wird nicht müde, den Völkerrechtsbruch Russlands anzuprangern, wenn er in Talkshows auf das Thema Krim angesprochen wird.
H. Schorn Ich bin in rechtlichen Dingen wenig bewandert, soweit mir bekannt, erfolgte die Abtrennung des Kosovo mit Zustimmung großer Teile der dort lebenden Bevölkerung, aber gegen den Willen Jugoslawiens und in der Ukraine lag es ebenso, dass die Bevölkerung für die Abspaltung stimmte, die Ukraine aber dagegen war. Dazu kommt, dass die Ukraine zu dieser Zeit über keine legitim gewählte Regierung verfügte! Gut das spricht Russland jetzt nicht von aller Schuld frei, aber große Unterschiede sehe ich da nicht!
@schorn: Dass die Kosovo-Abtrennung völkerrechtswidrig war ist völlig unzweifelhaft, auch Gerhard Schröder, der Serbien mit bombardieren lies, gibt das zu – und “unabhängiger Staat” ist ein schlechter Witz. Die USA haben dort die größte Militärbastion seit Vietnam errichtet, weil – wie ein US-General mitteilte, “Eisenhower das nach dem 2. Weltkrieg vergessen hatte.” Außer US-Militär gibts dort nur Mafia und Drogenhandel, was passt, den irgendwer muss den Stoff, der in Afghanistan produziert wird (wieder neue Rekordernten 2017!) ja verkaufen.
Über die Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeit des Kosovo kann man in der Tat unterschiedlicher Auffassung sein. Eine Rolle spielte sicher, dass “der Westen”, wenige Jahre nach Srebrenica, die m. E. durchaus berechtigte Sorge hegte, die Schergen Arkans und Seseljs könnten auf dem Amselfeld wie wenige Jahre zuvor in Ostbosnien ein Blutbad an der Zivilbevölkerung anrichten.
@Ramatze: Sie legen Wert auf die Feststellung, die Mehrheit der Krim-Bevölkerung sei willens gewesen, sich der Russischen Föderation anzuschließen. Das mag wohl so sein. Jetzt bitte ich Sie aber in der Frage Tschetschenien um dieselbe Herangehensweise. Die dortige Unabhängigkeitsbewegung unter Dschochar Dudajew und später Aslan Maschadow wurde von Jelzin und später Putin (sic) blutig niedergeschlagen. Anders als der Terrorist Schamil Bassajew handelte es sich bei Dudajew und Maschadow um gemäßigt Vetreter tschetschenischer Anliegen, ähnlich wie im Kosovo Ibrahim Rugova, der Vorgänger Hasim Thacis. Wenn Sie auf der einen Seite den Willen der Bevölkerung der Krim (oder Kataloniens) als hohes Gut ansehen, dann frage ich mich, warum Sie auf der anderen Seite für das harte Vorgehen der Ordungsmacht Russland in Tschetschenien Verständnis aufbrachten – denn ich vermute, dass Sie das weiland getan haben. Wenn ich mich irre, korrigieren Sie mich gerne.
@ H. Schorn; Danke für die Info! Über den genauen Sachverhalt im Kosovo, war ich so nicht im Bilde. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass in beiden Fällen der Großteil der Bevölkerung des Kosovo und der Krim für die Loslösung eintratt. Da diese Sezession gegen den Willen der Herkunftsländer erfolgte, haben beide Vorgänge einen bitteren Beigeschmack.