Präzedenzfall Wikileaks

Der UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer hat seine Position zum Fall Assange noch einmal klar gestellt – doch keine Zeitung wollte den Beitrag drucken

Der Sonderberichterstatter des Hochkommissariats für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen, der Schweizer Nils Melzer, der zusammen mit zwei medizinischen Experten Julian Assange im Gefängnis besuchen konnte, hatte in seinem Gutachten am 31. Mai 2019 von der massiven „psychologischen Folter“ gesprochen, der Assange seit Jahren ausgesetzt werde und ein sofortiges Ende der „kollektiven Verfolgung“ des Wikileaks-Gründers gefordert. “In 20 Jahren Arbeit mit Opfern von Krieg, Gewalt und politischer Verfolgung“, so Nils Melzer, „habe ich noch nie erlebt, dass sich eine Gruppe demokratischer Staaten zusammenschließt, um ein einzelnes Individuum so lange Zeit und unter so geringer Berücksichtigung der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit bewusst zu isolieren, zu verteufeln und zu missbrauchen”.

Klarer und deutlicher als in dem Statement des UN-Folterexperten kann man kaum benennen, welchem menschenunwürdigen Unrecht Julian Assange seit Jahren ausgesetzt ist, doch abgesehen von einigen alternativen Medien erregten diese Anklagen kein größeres Aufsehen. Sie verschwanden sofort wieder aus den Nachrichten und der britische Außenminister Jeremy Hunt verbat sich die „hetzerischen Anschuldigungen“ des UN-Berichterstatters.

Zur Klarstellung seiner Position und seiner Argumente hatte Nils Melzer dann im Juni einen Artikel verfasst und ihm dem Guardian, der Times, der Financial Times, dem Sydney Morning Herald, dem Australian, der Canberra Times, dem Telegraph, der New York Times, der Washington Post, der Thomson Reuters Foundation und Newsweek zur Veröffentlichung angeboten. Keine dieser Zeitungen wollte ihn drucken und er erschien dann online auf medium.com: Demasking the Torture of Julian Assange

Leider zu spät für das kleine Buch, das ich über diesen Fall gerade geschrieben hatte und das eine Woche zuvor in den Druck gegangen war ( „Don’t Kill The Messenger-Freiheit für Julian Assange!“, Westendverlag), deshalb hier einige Auszüge:

„Sie denken vielleicht, dass ich mich getäuscht habe. Wie könnte das Leben in einer Botschaft mit einer Katze und einem Skateboard jemals einer Folter gleichkommen? Das ist genau das, was ich auch dachte, als Assange zum ersten Mal um Schutz an unser Büro appellierte. Wie die meisten Bürger war ich unbewusst durch die unerbittliche Hetze vergiftet, die im Laufe der Jahre verbreitet worden ist. Also brauchte es ein zweites Klopfen an die Tür, um meine widerwillige Aufmerksamkeit zu erregen. Aber als ich mir die Fakten dieses Falles angesehen hatte, erfüllte mich das, was ich fand, mit Ablehnung und Unglauben.“

Der UN-Folterexperte, der auch als Professor für Völkerrecht an der Universität Glasgow tätig ist, war also keineswegs ein Fan von Julian Assange, sondern negativ vorbelastet und wollte sich der Sache gar nicht annehmen. Erst als Assanges Anwälte und eine Ärztin erneut an das UN-Hochkommissariat appellierten, nahm sich Nils Melzer den Fall vor.

„Selbstverständlich dachte ich, dass Assange ein Vergewaltiger sein muss! Aber ich fand heraus, dass er nie wegen einer Sexualstraftat angeklagt wurde. Zwar machten zwei Frauen in Schweden Schlagzeilen, kurz nachdem die USA die Verbündeten ermutigt hatten, Gründe für die Verfolgung von Assange zu finden. Eine von ihnen behauptete, er habe ein Kondom zerrissen, der andere, dass er es nicht getragen habe, in beiden Fällen beim einvernehmlichen Geschlechtsverkehr – nicht gerade Szenarien, die den Ruf der “Vergewaltigung” in einer anderen Sprache als Schwedisch haben. Allerdings hat jede Frau sogar ein Kondom als Beweis vorgelegt. Das erste, angeblich von Assange getragen und zerrissen, enthüllte keinerlei DNA – weder seine, noch ihre oder die von jemand anderem. Stell dir das vor. Das zweite, gebrauchte, aber intakte, sollte “ungeschützten” Geschlechtsverkehr beweisen. Stell dir das noch mal vor. Die Frauen schrieben sogar, dass sie nie beabsichtigten, ein Verbrechen zu melden, sondern von der eifrigen schwedischen Polizei dazu gezwungen wurden. Stell dir das noch einmal vor. Seitdem haben sowohl Schweden als auch Großbritannien alles getan, um Assange daran zu hindern, sich diesen Anschuldigungen zu stellen, ohne sich gleichzeitig der Auslieferung in die USA und damit einem Schauprozess mit anschließendem Leben im Gefängnis auszusetzen. Seine letzte Zuflucht war die ecuadorianische Botschaft.“

 

Zur Erinnerung: Zuvor hatte Assanges Anwälte durch drei Instanzen gegen das Auslieferungsersuchen Schwedens geklagt, weil dieses nur von einer Staatsanwaltschaft und nicht von einem ordentlichen Gericht gestellt worden war. In einer abenteuerlichen Rechtsbeugung stellte der britische Supreme Court dann am Ende fest, dass nach den EU-Auslieferungsverträgen tatsächlich der Beschluss einer „judicial authority“, also eines Gerichts notwendig sei, wenn man aber die französische Übersetzung der Verträge („autorité judicial“) heranziehe, könnten Staatsanwälte eingeschlossen sein. Dass sich Julian Assange angesichts derartiger juristischer Gymnastik den Rechtsinstanzen Englands und Schwedens nicht mehr aussetzen wollte, und Asyl in der Botschaft suchte, ist nachvollziehbar. Mit einem ordentlichen rechtsstaatlichen Verfahren hatte die Verfolgung Assanges wenig zu tun, wie der Jurist Nils Melzer fraglos erkannte:

„In Ordnung, dachte ich, aber Assange muss doch ein Hacker sein! Aber was ich herausfand, war, dass alle seine Enthüllungen frei an ihn durchgesickert waren, und dass niemand ihm vorwirft, einen einzelnen Computer gehackt zu haben. Tatsächlich bezieht sich die einzige strittige Hacking-Anklage gegen ihn auf seinen angeblichen erfolglosen Versuch, ein Passwort zu knacken, das, wenn es erfolgreich gewesen wäre, seiner Quelle hätte helfen können, ihre Spuren zu verwischen. Kurz gesagt: eine eher isolierte, spekulative und unbedeutende Kette von Ereignissen; ein bisschen wie der Versuch, einen Fahrer zu verfolgen, der erfolglos versucht hat, die Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten, aber scheiterte, weil sein Auto zu schwach war.“

Diese „Verschwörung“ mit Chelsea Manning, die Beihilfe zur Spurenverwischung ist der einzige der 18 Anklagepunkte des us-amerikanischen Auslieferungsversuchens, der sich nicht auf die publizistischen Aktivitäten von Julian Assange bezieht. Und diese Anklage ist genauso vage wie die von Melzer herangezogene Geschwindigkeitsüberschreitung.

„Nun denn, ich dachte, zumindest wissen wir sicher, dass Assange ein russischer Spion ist, sich in die US-Wahlen eingemischt hat und fahrlässig den Tod von Menschen verursacht hat! Aber alles, was ich herausgefunden habe, ist, dass er konsequent wahre Informationen von inhärent öffentlichem Interesse veröffentlicht hat, ohne irgendeinen Vertrauens-, Pflicht- oder Treuebruch. Ja, er hat Kriegsverbrechen, Korruption und Missbrauch aufgedeckt, aber wir sollten die nationale Sicherheit nicht mit staatlicher Straflosigkeit verwechseln. Ja, die von ihm offenbarten Fakten befähigten die US-Wähler, fundiertere Entscheidungen zu treffen, aber ist das nicht einfach Demokratie? Ja, es gibt ethische Diskussionen über die Legitimität von unredigierten Offenlegungen. Aber wenn ein tatsächlicher Schaden wirklich verursacht worden wäre, warum sahen sich weder Assange noch Wikileaks jemals mit entsprechenden Strafanzeigen oder Zivilklagen auf gerechte Entschädigung konfrontiert? (…)

Am Ende dämmerte es mir schließlich, dass ich durch Propaganda geblendet und dass Assange systematisch verleumdet worden war, um die Aufmerksamkeit von den Verbrechen abzulenken, die er aufgedeckt hatte. Nachdem er durch Isolation, Spott und Scham entmenschlicht worden war, wie die Hexen, die wir auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatten, war es leicht, ihm seine grundlegendsten Rechte zu entziehen, ohne die Öffentlichkeit weltweit zu empören. Und so wird ein rechtlicher Präzedenzfall geschaffen, durch die Hintertür unserer eigenen Selbstgefälligkeit, die in Zukunft ebenso gut auf Offenbarungen von The Guardian, der New York Times und ABC News angewendet werden kann und wird.“

Das ist der entscheidende Punkt. Es geht in diesem Fall nicht um die Person Julian Assange, der seinen 48. Geburtstag am 3. Juli im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh verbringen muss, obwohl er keine Verbrechen begangen, sondern Verbrechen aufgedeckt hat; es geht um einen Präzedenzfall von internationaler Bedeutung. Denn zum ersten Mal soll hier ein Journalist nach dem „Espionage Act“ verurteilt werden, indem man das Grundrecht auf Pressefreiheit außer Kraft setzt und ihn einfach als „feindlichen Spion“ deklariert. Wenn Julian Assange ausgeliefert und verurteilt wird bedeutet das nichts anderes, als dass künftig jede Journalistin und jeder Publizist, jeder Verlag und jedes Medium, das unangenehme Wahrheiten über die Vereinigten Staaten veröffentlicht zum „Spion“ erklärt und mit internationalem Haftbefehl zur Fahndung ausgeschrieben werden kann. Ist das der Grund, warum keine Zeitung den Beitrag des UN-Folterbeauftragten haben wollte ? Wollen die Großmedien den Schuss partout nicht hören, oder verstehen sie sich ohnehin nur noch als Schoßhund der Unterhaltungsindustrie und nicht mehr als Wachhund der Demokratie ? Die Ignoranz und das Schweigen über die Unrechtmäßigkeit der Verfolgung von Assange und Wikileaks lässt kaum einen andere Interpretation zu. Und wenn wir uns vorstellen, was im hiesigen „Werte“-Westen multimedial los wäre, wenn mit einem Journalisten in Russland oder China, der Kriegsverbrechen und Korruption der Regierungen öffentlich gemacht hat, nur ansatzweise so umgegangen würde wie mit Julian Assange, dann wird deutlich, wie schändlich und niederträchtig dieses Schweigen ist. Und, das macht Nils Melzer am Ende deutlich, wie dumm und wie gefährlich:

„Es geht nicht nur darum, Assange zu schützen, sondern auch darum, einen Präzedenzfall zu verhindern, der das Schicksal der westlichen Demokratie besiegeln könnte. Denn wenn es zu einem Verbrechen geworden ist, die Wahrheit zu sagen, während die Mächtigen Straflosigkeit genießen, wird es zu spät sein, den Kurs zu korrigieren. Dann haben wir uns ergeben – unsere Stimme der Zensur und unser Schicksal einer ungezügelten Tyrannei.“

Dieser Beitrag ist auch auf telepolis erschienen
Auch als Podcast auf KenFM

Das Buch “Don’t Kill The Messenger – Freiheit für Julian Assange!”, erscheint am 2. Juli im Westendverlag. 124 Seiten, 8,50 Euro

 

6 Comments

  1. “die von ihm offenbarten Fakten befähigten die US-Wähler, fundiertere Entscheidungen zu treffen, aber ist das nicht einfach Demokratie?”

    Darum geht’s. Und es ist alles viel schlimmer. Denn das “Schicksal der westlichen Demokratie” ist lange besiegelt: sie ist nämlich keine, sondern nur eine ausgeklügelte Simulation mit genau dem Ziel der Verhinderung tatsächlicher Demokratie. (Damit es nicht auffällt, inszeniert man jede Menge Ablenkung, Zerstreuung, eine vorgeblich “freie Presse”, greift auch zu Indoktrination, Denunziation usw.)

    Leute wie Assange, die den Zugang zu relevanten Informationen – von Obrigkeit und MSM unkontrolliert – demokratisieren wollen, gelten als Feind.

    In jedem machtzentrierten System – ob offene Diktatur, autoritärer Staat oder Wertewesten – ist Demokratie das letzte, was die Elite will. Weil sie es für gefährlich hält, wenn “einfache Leute”, mit deren “schlichter Moral” Einfluss gewinnen.

    Wissen ist Macht. Und die soll schön in Händen weniger bleiben, die sich als dazu befugt betrachten. Das mediale Schweigen zu Assange ist daher kein “schändliches Versagen”, sondern Teil der Herrschaftsmechanik.

    Aber die Elite im Wertewesten verliert angesichts des selbstverschuldeten Systemkollaps’ zunehmend die Nerven: Sie schadet ihrer Simulation durch die hartnäckige Verfolgung von Whistleblowern mehr, auch wenn sie kurzfristig Nachahmer abschreckt und die Nachrichtenlage steuert. Sie lässt dadurch jedoch die Maske fallen und hinter der inszenierten pseudodemokratischen Oberfläche kommt das hässliche Gesicht von Manipulation, Lüge und skrupelloser Machtbehauptung zum Vorschein. Das bleibt ganz offensichtlich nicht ohne Folgen…

  2. Wo sind die Stimmen unserer angeblich so kritischen und unbestechlichen Journalisten und Leitmedien, zu diesem Schurkenstück??? Das große Schweigen herrscht, ergo, man hat sich dem Establishment ergeben. Um aber auch den letzten Bürger und Leser ihrer Postillen nicht dumm sterben zu lassen, sollten diese Typen von “Journalisten” wenigstens den Mumm haben und das in ihren Blättern öffentlich publizieren. Das sie das Sprachrohr der Mächtigen sind, nur noch Systemkomform schreiben (Hofschreiber!), und man von ihnen keine kritische Information geschweige denn Aufklärung erwarten kann. Nur wird es leider nicht passieren, denn genau das möchte man, ein Dummes Volk! Welches sich mit Banalitäten beschäftigt und fern jeglicher Realität in den Tag hinein lebt. Wir befinden uns im Übergang vom Kapitalismus zum Neofeudalismus. Man braucht dafür nur in das gelobte Land in “Gods own Country” gucken. Da gibt es Gegenden im mittleren Westen, wo Darwins Evolutionstheorie Teufelszeug und verboten ist, dort lehrt man in der Schule stramm nach der Bibel und bereitet sich auf die Apokalypse vor. @Stefan hat das schon richtig formuliert, “Wissen ist Macht. Und die soll schön in Händen weniger bleiben, die sich als dazu befugt betrachten. “

  3. Das Schicksal der westlichen Demokratie IST besiegelt!

    „Wo simmer denn dran? Aha, heute krieje mer de Dampfmaschin. Also, wat is en Dampfmaschin? Da stelle mehr uns janz dumm. Und da sage mer so: En Dampfmaschin, dat is ene jroße schwarze Raum, der hat hinten un vorn e Loch. Dat eine Loch, dat is de Feuerung. Und dat andere Loch, dat krieje mer später.“ (Originaltext nach dem Buch “Die Feuerzangenbowle” von Heinrich Spoerl).

    Erst die vorgetäuschte Betrunkenheit der Schüler lässt den Lehrer seine Fassung verlieren. Wie bringt man die Mitläufer und Wasserträger von verdeckt wirkenden Eliten außer Fassung?

    Ein Willkürstaat und seine Behörden sind an Gesetzen, Verordnungen und Gerichtsentscheiden zu erkennen, die willkürlich das Grundgesetz und die Landesverfassungen, gesetzeskonform getroffene Bescheide und vertragliche Vereinbarungen außer Kraft setzen.

    Mitarbeiter und Behörderleiter bewegen sich ungestraft in einem rechtsfreien Raum. Es kann willkürlich so oder entgegengesetzt entschieden werden. Die politischen Ursachen sind:

    § 146 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) lautet:
    „Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen.“

    § 147 GVG bestimmt:
    „Das Recht der Aufsicht und Leitung steht zu:
    1. dem Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz hinsichtlich des Generalbundesanwalts und der Bundesanwälte;
    2. der Landesjustizverwaltung hinsichtlich aller staatsanwaltschaftlichen Beamten des betreffenden Landes;
    3. dem ersten Beamten der Staatsanwaltschaft bei den Oberlandesgerichten und den Landgerichten hinsichtlich aller Beamten der Staatsanwaltschaft ihres Bezirks.“

    Zu diesem Ergebnis kam der Europäische Gerichtshof am 27. Mai 2019 und schlussfolgert, dass es in der Bundesrepublik Deutschland im Gegensatz zu anderen EU-Mitgliedern keine unabhängige Justiz gebe.

    Urteil EUGh am 27. Mai 2019: Eine Entscheidung könnte „im Einzelfall einer Weisung des Justizministers des betreffenden Bundeslands unterworfen werden.“
    Kurzlink: https://ogy.de/rzxa
    http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=214466&doclang=DE&mode=req&dir=&part=1&cid=390193

    Gerichtshof der Europäischen Union, Pressemitteilung 68/19
    Kurzlink: https://ogy.de/aydb
    https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2019-05/cp190068de.pdf

    Mich den Prozeduren einer solchen Justiz auszusetzen, ist wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt. Ein Richter wird vorzugsweise im Sinne einer Behörde urteilen. Das Offenkundige ist unbetreitbar, kann von niemandem angefochten werden und bedarf keines kostenträchtigen juristischen Verfahrens.

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