Frisch aus dem Archiv: Goethes “wundersam erleuchtetes Amphitheater”

Wir waren zur Allerheiligsten-Pforte hinausgefahren und hatten bald Hanau hinter uns, da ich denn zu Gegenden gelangte, die durch ihre Neuheit mein Aufsehen erregten, wenn sie auch in der jetzigen Jahreszeit wenig Erfreuliches darboten. Ein anhaltender Regen hatte die Wege äußerst verdorben, welche überhaupt noch nicht in den guten Stand gesetzt waren, in welchem wir sie nachmals finden; und unsere Reise war daher weder angenehm noch glücklich. Doch verdankte ich dieser feuchten Witterung den Anblick eines Naturphänomens; denn ich habe nichts Ähnliches jemals wieder gesehen, noch auch von anderen, daß sie es gewahrt hätten, vernommen.Wir fuhren nämlich zwischen Hanau und Gelnhausen bei Nachtzeit eine Anhöhe hinauf, und wollten, ob es gleich finster war, doch lieber zu Fuße gehen, als uns der Gefahr und Beschwerlichkeit dieser Wegstrecke aussetzen. Auf einmal sah ich an der rechten Seite des Wegs, in einer Tiefe eine Art von wundersam erleuchteten Amphitheater. Es blinkten nämlich in einem trichterförmigen Räume unzählige Lichtchen stufenweise übereinander, und leuchteten so lebhaft, daß das Auge davon geblendet wurde. Was aber den Blick noch mehr verwirrte, war, daß sie nicht etwa still saßen, sondern hin und wieder hüpften, sowohl von oben nach unten, als auch umgekehrt und nach allen Seiten. Die meisten jedoch blieben ruhig und flimmerten fort. Nur höchst ungern ließ ich mich von diesem Schau- spiel abrufen, das ich genauer zu beobachten gewünscht hätte. Auf Befragen wollte der Postillon zwar von einer solchen Erscheinung nichts wissen, sagte aber, daß in der Nähe sich ein alter Steinbruch befinde, dessen mittlere Vertiefung mit Wasser angefüllt sei. Ob dieses nun ein Pandämonium von Irrlichtern oder eine Gesellschaft von leuchtenden Gestalten gewesen, will ich nicht entscheiden.

Es kann kaum ein Zweifel bestehen: das „Naturphänomen”, von dem Goethe im sechsten Buch seiner Autobiographie berichtet (WA I. 27, S.45 f.), war ein Ufo. „Irrlichter”, wie er sie als mögliche Verursacher in Erwägung zieht, sind mittlerweile als natürliche Gase identifiziert, die sich aufgrund klimatischer Bedingungen selbst entzünden und wie ein Feuerball durch die Luft schweben —sie kommen als Ursache des beschriebenen „Pandämoniums” nicht in Frage. Alles spricht dafür, daß es sich bei dem Erlebnis des Studenten Goethe um eine „Begegnung der Zweiten Art” handelt: die Sichtung einer gelandeten oder über dem Boden schwebenden Untertasse. Zu einem Kontakt mit den „leuchtenden Gestalten”, einer Unheimlichen Begegnung der Dritten Art, wie sie Spielberg in seinem Film beschreibt, ist es wohl nicht gekommen —die Details des Lichterphänomens aber lesen sich wie eine Regieanweisung dazu. Sie gleichen aufs Haar den zahlreichen Zeugen- aussagen, auf die sich die moderne Ufo-Literatur und im übrigen auch Spielberg berufen, der seinen Film als Dokumentation verstanden wissen wollte. „Wundersam erleuchtetes Amphitheater” —ein treffenderer Ausdruck für ein Ufo ist im 18. Jahrhundert kaum denkbar, alles sprich tdafür,daß es sich bei diesem „trichterförmigen Raum”, der „stufenweise” flimmert, nicht um einen im vorelektrischen Zeitalter schwerlich zu simulierenden Trick handelt — genausowenig wie um eine Freie (Amphi-)Theater-Gruppe, die auf dem Land zwischen Hanau und Gelnhausen gastierte —, sondern um ein Flugobjekt mit außergewöhnlichen technischen Eigenschaften. Dem zur Beurteilung des Phänomens herangezogenen Postillon fällt die klassische Rolle des aufgeklärten, gegen Unerklärliches immunisierten „Experten” zu: Zuerst streitet er grundsätzlich ab —er will von der Realität der Erscheinung „nichts wissen” —und wenn das nicht mehr hilft, weil der Zeuge insistiert, werden rationalisierende Erklärungen nachge- schoben —der „mit Wasser angefüllte Steinbruch”. Daß diese Wasseroberfläche Licht reflektiert haben könnte, ist fraglos möglich. Dagegen spricht aber nicht nur die trübe, regnerische Witterung dieser Septembernacht im Jahr 1768, sondern vor allem die Intensität und Regelmäßigkeit des Phänomens: „unzählige Lichtchen”, die „stufenweise übereinander” rhythmisch „hin und wieder hüpften” und so „lebhaft leuchteten, daß das Auge geblendet wurde”.

Für die Goethe-Forschung wäre die Identifizierung des „wundersam erleuchteten Amphi- theaters” als gelandetes unidentifiziertes Flugobjekt nur dann von Belang, wenn sich ein Kontakt mit seiner Besatzung nachweisen ließe. Die beiden Hinweise auf Goethes Zustand nach diesem „unerwartet glücklichen Ereignis” —ein „Schmerz” in der Brust, der „erst nach vielen Jahren mich völlig verließ”, und ein merkwürdiger hypnagoger Zustand, „daß ich eigentlich im Gehen schlief” —deuten nicht auf eine jener Entführungen (und operativen Eingriffe durch außerirdische „Ethnologen”), wie sie amerikanische Ufo-Forscher neuerdings zahlreich dokumentieren. Goethes Erklärungen für diesen „Verdruß” sind völlig plausibel: Auch damals ließ der ostzonale Straßenzustand zu wünschen übrig („durch Thüringen wurden die Wege noch schlimmer”), und bei Auerstädt blieb der Wagen stecken. Beim Anschieben „ermangelte [ich] nicht, mich mit Eifer anzustrengen und mochte mir dadurch die Bänder in der Brust übermäßig ausgedehnt haben.” Daß ihn nach solcher Anstrengung, „des Wachens und der Reisebe- schwerden nicht gewohnt”, später im Gasthaus eine „unüberwindliche Schlafsucht” überfällt, als er gerade unterwegs ist, „die erhoffte Suppe zu beschleunigen”, scheint mehr als verständlich. Als Ahnherr der Ufo-Entführungsopfer, wie sie sich in den USA mittlerweile in Selbsthilfegruppen organisiert haben, kommt Goethe deshalb nicht in Frage. Auch wenn die „Abductees” —die den Psychiater meist wegen einer Erinnerungsblockade aufsuchen, die unter Hypnose bricht und (erschreckend übereinstimmende) Details von Entführungserlebnissen und medizinischen Untersuchungen preisgibt —ihre Horror-Erfahrung durchaus mit positiven „Bewußtseins-Transformationen” verbinden, Verwandlungen von Weltbild und Lebenseinstellungen in einer Art, wie sie „goethischer” nicht sein könnte: ganzheitlich, spiritualistisch, kosmisch.

Für die Ufo-Forschung ist das Protokoll Goethes von weit größerem Belang —es stammt nicht nur von einem glaubwürdigen Zeugen, sondern darüber hinaus von einem der größten Lichtexperten seiner Zeit —Goethes nie akzeptierte „Farbenlehre” wurde erst in jüngster Zeit von der neuen Physik und Wahrnehmungsforschung im Grundsatz rehabilitiert, sie war dem mechanistischen Zeitalter Newtons 200 Jahre voraus. Wenn aber ein so deutlich als blinkende Untertasse identifizierbares „Amphitheater” bereits im 18. Jahrhundert landete, dann kann es sich weder um einen „modernen Mythus” handeln —als welchen C. G. Jung das Ufo-Phänomen klassifizierte —noch um geheimes militärisches „Stealth”-Fluggerät, mit dem nach Ansicht notorischer Skeptiker Ufos seit 1946 meistens verwechselt werden. Vielmehr darf „mit Goethe” behauptet werden —ohne den E. T.- Archäologen v. Däniken zu einem weiteren Werk („Waren die Dichter-Götter Astronauten?”) anregen zu wollen —, daß es „Untertassen” sehr wohl schon gab, bevor sie ihren Siegesflug durch die Yellow Press antraten. Die Spezies WEA —„Wundersam erleuchtete Amphitheater” —muß als legitimer Vorfahr der Gattung Ufo gelten.

 Bei der Arbeit an einem Buch über Goethes Naturforschung stieß ich in meinem Archiv auf diesen Artikel, der in der taz vom 10.5.1991  erschienen ist . In “Das sogenannte Übernatürliche” (1998, als Taschenbuch 2001 unter dem Titel: “Können Tomaten träumen?“) lieferte die Ufo-Sichtung des 19-jährigen Studenten Goethe dann den Auftakt zu einem Kapitel über “Außerirdische von unserem eigenen Planeten”.

4 Comments

  1. “Lichtchen” stammen wohl nicht von einem Fluggerät! – Hätte Goethe nämlich ein solches erblickt, wäre er später mit Sicherheit darauf zurückgekommen. Aber das geschah nicht.

    1. Die Quelle ist angegeben: Weimarer Ausgabe, Bd. 27 – es handelt sich um Goethes Autobiographie “Dichtung und Wahrheit”

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