9/11 Review: Turmopfer im geopolitischen Schach?

Unter “9/11 Review” werden hier in loser Folge einige der historischen Beiträge erscheinen, die jetzt in  dem Sammelband  11.9.-20 Jahre danach – Einsturz einer Legende neu erschienen sind. Heute ein Artikel vom 7.Dezember 2001.

07.12.01

»Seit den Anfängen der Kontinente übergreifenden politischen Beziehungen vor etwa fünfhundert Jahren ist Eurasien stets das Machtzentrum der Welt gewesen … Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht verhindern kann … Eurasien ist somit das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird.«

Nicht nur die ersten Sätze aus Zbigniew Brzezinskis 1997 erschienenem Buch The Grand Chessboard lesen sich wie ein Skript des »war on terrorism« genannten Krieges gegen Afghanistan. Und es wäre naiv, Brzezinski (Jahrgang 1928) nach seinem Abgang als Jimmy Carters Sicherheitsberater für einen abgehalfterten Professor zu halten, der nicht weiter ernst zu nehmen ist. Als einer der Vordenker und Mitbegründer der Rockefeller-Thinktanks Council an Foreign Relations (CFR)und der Trilateralen Kommission hat er nach wie vor bedeutenden Einfluss. Zum Beispiel auf den Vizepräsidenten Cheney, der 1998 bekundete: »Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der eine Region so schnell strategisch bedeutend geworden ist wie die kaspische …« – Cheney war damals noch als Chef von Halliburton, dem größten Ausrüster der US-Ölindustrie, der gerade das Pipelineprojekt durch Afghanistan projektiert hatte. Wegen der gigantischen Bodenschätze hat für Brzezinski »die Pipelinefrage für die Zukunft des Kaspischen Beckens und Zentralasiens eine zentrale Bedeutung«. In seinem vorausschauend »Der eurasische Balkan« genannten Kapitel über die Region heißt es weiter:

»Falls die wichtigsten Ölleitungen der Region weiterhin durch russisches Territorium zum russischen Absatzmarkt am Schwarzen Meer in Noworossijsk verlaufen, werden sich die politischen Konsequenzen, auch ohne dass die Russen die Muskeln spielen lassen, bemerkbar machen. Die Region wird eine politische Dependance bleiben und Moskau darüber entscheiden können, wie der Reichtum der Region verteilt werden soll … Amerikas primäres Interesse muss folglich sein, mit dafür zu sorgen, dass keine einzelne Macht die Kontrolle über dieses Gebiet erlangt und dass die Weltgemeinschaft ungehindert finanziellen und wirtschaftlichen Zugang zu ihr hat. Geopolitischer Pluralismus wird nur dann zu einer dauerhaften Realität werden, wenn ein Netz von Pipeline- und Transportrouten die Region direkt mit den großen Wirtschaftsknotenpunkten der Welt verbindet, über das Mittelmeer und das Arabische Meer ebenso wie auf dem Landweg.«

Die Hervorhebungen »Weltgemeinschaft« und »geopolitischer Pluralismus« sind von mir und kennzeichnen den Jargon, in dem die Interessen der USA mit denen der Weltgemeinschaft und die Dominanz Washingtons mit »Pluralismus« gleichgesetzt werden. Nicht nur von Brzezinski, sondern auch von seinem Kollegen Samuel Huntington, den er in seinem Buch zitiert: »Die Fortdauer der amerikanischen Vorherrschaft ist sowohl für das Wohlergehen und die Sicherheit der Amerikaner als auch für die Zukunft von Freiheit, Demokratie, freier Marktwirtschaft und internationaler Ordnung in der Welt von zentraler Bedeutung.«

Zum Schlachtruf »Entweder für uns oder für die Terroristen« ist es von da nicht mehr weit. Andreas von Bülow weist darauf hin, dass geostrategische Studien wie Brzezinskis Chessboard oder Huntingtons Clash of Civilizations als Auftragsarbeiten der CIA in der Regel aus einem. allgemein gehaltenen, zur Veröffentlichung bestimmten Teil sowie aus einem unter Verschluss bleibenden Anhang mit konkreten Vorschlägen und Handlungsanweisungen bestehen. Wie diese aussehen, ließ sich auch schon vor dem 11.9.2001 mit »an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« erkennen: » Covert Operations der Geheimdienste (sind) das Mittel der Wahl beider Durchsetzung amerikanischer Großmacht– und auch Wirtschaftsinteressen, während der Einsatz der Militärmacht eher unpopulär bleibt.« Dies bestätigte eine CFR-Sprecherin in einer BBC-Sendung: Verdeckte Operationen seien »weniger teuer« und oft »effektiver« als offizielle Militäreinsätze.

Es geht um einen verdeckten Krieg, um ein Shoot-out in bester texanischer Tradition mit »dead or alive«-Steckbriefen, Aufrufen zur Lynchjustiz und der Einführung von Standgerichten. Selbst einer monströsen Terrorbande wie den Nazis wollten die Amerikaner nach Kriegsende mit zivilen, rechtsstaatlichen Methoden beikommen. Warum ist das mit dem zum Terrorprinzen aufgestiegenen saudischen Milliardärslümmel Bin Laden nicht möglich? Warum war zu keinem Zeitpunkt auch nur von dem Versuch die Rede, ihn vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen? Warum wurde der erste internationale Haftbefehl für Bin Laden bei Interpol 1998 nicht von Washington, London oder Berlinbeantragt, sondern von Tripolis, also von niemand anderem als ausgerechnet Moamar Al-Gaddhafi (der Osama für die Unterstützung islamistischer Terroranschläge in Libyen verantwortlich machte, bei dem u. a. zwei deutsche Geheimdienstmitarbeiter getötet wurden)? Warum lässt man unsere neuen Freunde von der Nordallianz, die das Land vor den Taliban als brutale Schlächter zugrunde richteten, nun als blutige Rächer zurückkehren? Sind wir damit, wie Robert Fisk im Independent meint, nicht endgültig auf die Seite von Kriegsverbrechern gewechselt? Warum finden die Statements der afghanischen Frauenorganisation RAWA, die auf diese grauenhafte Absurdität hinweisen, keinen Eingang in die Medien, geschweige denn ihre Vertreterinnen einen Platz am Petersberger Verhandlungstisch? Warum sieht sich der Ölriese Unocal, der mit den Taliban jahrelang intensiv über die Pipeline verhandelte, zu einem Statement genötigt, die Islamschüler zu keiner Zeit unterstützt und gehätschelt zu haben?Könnte es sein, dass all dies mit einer Politik zu tun hat, die John Pilger, der Seniorkorrespondent des britischen Mirror, den »geopolitischen Faschismus« der USA nennt?

Richard Falk, Professor für internationale Politik in Princeton, hat das erklärt. »Westliche Außenpolitik, sagt er, »wird in den Medien selbstgerecht und moralisch einseitig dargestellt, mit positiven Bildern westlicher Werte und Porträts bedrohter Unschuldiger, die eine Kampagne unbegrenzter politischer Gewaltrechtfertigen. Der Aufstieg von Rumsfeld und seinem Vertreter Paul Wolfowitz sowie seinen Partnern Richard Perle und Elliot Abrams bedeutet, dass ein Großteil der Welt jetzt offen von einem geopolitischen Faschismus bedroht ist, der sich seit 1945 entwickelt und seit dem 11. September beschleunigt hat. Die amtierende Gang in Washington besteht aus authentischen amerikanischen Fundamentalisten. Es sind die Erben von John Foster Dulles und Alan Dulles, jener baptistischen Fanatiker, die in den 50er Jahren das State Department bzw. die CIA leiteten, Reformregierungen in einem Land nach dem anderen niedermachten – Iran, Irak, Guatemala – und internationale Verträge aufkündigten wie die Genfer Indochina-Vereinbarungen von 1954, deren Sabotage durch John Foster Dulles direkt zu Vietnam und fünf Millionen Toten führten. Die Twin-Tower-Attacken sorgten in Bushs Washington sowohl für einen Auslöser als auch für eine bemerkenswerte Koinzidenz. Pakistans früherer Außenminister Niaz Naik hat enthüllt, ihm sei von hohen amerikanischen Vertretern Mitte Juli gesagt worden, dass eine Militäraktion in Afghanistan Mitte Oktoberbeginnen würde. Außenminister Powell war damals in Zentralasien unterwegs und sammelte schon Unterstützung für eine antiafghanische Kriegskoalition.«

Wenn bei einer Schachpartie der Verlust einer Figur zu einem strategischen Vorteil führt, spricht man von Opfer. Für den Laien sind solche Opferstrategien schwer zu erkennen, zumal wenn wichtige, scheinbar unersetzliche Figuren betroffen sind wie zum Beispiel zwei Türme. Der Profi freilich kann sich durchaus vorstellen, zwei Türme an der Heimatfront zu opfern, um sich dadurch tief in der gegnerischen Hälfte festzusetzen und einen unschlagbaren strategischen Vorteil – »globale Vorherrschaft« – zu erzielen, der das verlorene »Material« allemal wieder wettmacht. Es spricht sehr viel dafür, dass die geopolitischen Schachmeister in Washington die talibanische Attacke auf ihre Türme vorhergesehen und sogar aggressive Läufer wie den FBI-Jäger Bin Ladens, John O’Neill, zurückgepfiffen haben, um die gegnerischen Vorbereitungen nicht zu stören. Intellektuelle Vordenker wie Brzezinski und Huntington – Letzterer hat sich u. a. auch als CIA-Berater für die Aufstandsbekämpfung nach dem Sturz von Diktatoren einen Namen gemacht – hätten einfach ihren Job verfehlt, wenn sie in den unter Verschluss bleibenden konkreten Szenarien ihrer Studien nicht auch solche Opferstrategien durchspielen würden. Und wir wären einfach blind, wenn wir hinter dem menschelnden Jargon von »geopolitischem Pluralismus«, »Menschenrechten«, »freier Welt« und »humanitärer Intervention« nicht das auf Sieg und Vorherrschaft um jeden Preis programmierte »Great Game« sehen würden.«

Auszug aus: Mathias Bröckers, Andreas Hauss, Christian C. Walther:  11.9.-20 Jahre danach – Einsturz einer Legende , Westend Verlag, 1182 Seiten, 18 Euro

1 Comment

  1. Mathias Bröckers ist ein Ausnahmejournalist. Wie kein zweiter beherrscht er den Kunstgriff, den entscheidenden Schritt zurück zu machen um das große Bild im RICHTIGEN Ausschnitt zu sehen, zu erkennen und zu analysieren.
    Ich selbst glaube das die USA zur Zeit eine Identitätskrise durchleben, von der sie 2001 nicht einmal zu träumen wagten. Und diese Identitätskrise wird nicht zuletzt von klandestinen Kräften aus den eigenen Reihen befeuert.
    Ich möchte Wilhelm Busch zitieren: Wehe, wehe wenn ich auf das Ende sehe… .

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