9/11 Review: In Memoriam John O’Neill

Unter “9/11 Review” werden hier in loser Folge einige der historischen Beiträge publiziert, die jetzt in  dem Sammelband  11.9.-20 Jahre danach – Einsturz einer Legende neu erschienen sind. Heute ein Artikel vom 24.November 2001: In Memoriam John O’Neill – der kaltgestellte Jäger Bin Ladens starb im WTC

24.11.01
Dass die US-Bundespolizei FBI an tiefergehenden Ermittlungen gegen das Netzwerk von Bin Laden spätestens seit 1996 gehindert wurde und seine in den USA lebenden und seit langem auf der Liste der Terrorverdächtigen stehenden Brüder nach dem 11.9. problemlos ausreisen konnten, hatten wir in der letzten Folge berichtet. In einem Anfang der Woche in Frankreich erschienenen Buch der beiden Geheimdienstexperten und Betreiber des Internetmagazins Intelligence Online, Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasquié, wird diese verbotene Wahrheit bestätigt: Der seit 1993 mit den Ermittlungen gegen Bin Laden betraute Abteilungsleiter des FBI, John O’Neill, trat im August dieses Jahres aus Protest gegen diese Behinderungen zurück. »Das größte Hindernis bei den Ermittlungen gegen islamistische Terroristen«, so O’Neill gegenüber den Autoren, »waren die Interessen der US-Ölkonzerne und die Rolle Saudi-Arabiens.« Dass O’Neill nach seinem Rücktritt als Polizeidirektor den Posten als Sicherheitschef des World Trade Center annahm und bei dem Anschlag am 11.9. ums Leben kam, klingt wie ein Hollywoodplot, ist aber tragische Realität. Die Autoren haben ihr Buch John O’Neill gewidmet.

In seiner Rezension fasst Julio Goday einige Thesen von Brisard und Dasquié zusammen: »Die Autoren schreiben, dass es das Hauptziel der USA war, das Talibanregime zu konsolidieren und sich so den Zugang zu den zentralasiatischen Ölreserven zu sichern. Bis Anfang August 2001 sahen die USA die Taliban als eine Quelle der Stabilität in Zentralasien, die den Bau einer Pipeline ermöglichen würde, die die Ölfelder Turkmenistans, Kasachstans und Usbekistans durch Afghanistan und Pakistan mit dem Indischen Ozean verbindet. Bisher, so heißt es weiter, wurden die Ölreserven Zentralasiens von Russland kontrolliert. Das wollte die Bush-Regierung alles ändern., Doch konfrontiert mit der Weigerung der Taliban, auf die US-Konditionen einzugehen, wandelten sich, so die Autoren, die energiepolitischen Anstrengungen in militärische. An einem bestimmten Punkt der Verhandlungen, so Brisard in einem Interview in Paris, sagten die US-Vertreter den Taliban: Entweder ihr akzeptiert unser Angebot eines Teppichs aus Gold, oder wir begraben euch unter einem Teppich aus Bomben.«

Der Bombenteppich konnte mittlerweile, dem WTC-Anschlag sei Dank, problemlos ausgelegt werden. Da half es auch nichts mehr, dass sich die Taliban im Frühjahr zur Aufpolierung ihres Images eine PR-Repräsentantin in Washington zugelegt hatten. Da wirkte also kein bärtiger »Assassine« mit Fielmannbrille bzw. Augenklappe wie der Botschafter in Pakistan, sondern die professionell fesche Laila Helms, Tochter eines afghanischen Exministers und – nicht zu fassen! – Nichte des ehemaligen CIA-Direktors Richard Helms. Sie wird von Brisard und Dasquié als eine Art Mata Hari porträtiert, die die Händel zwischen Taliban und CIA seit Beginn des Jahresinoffiziell orchestrierte. Helms brachte den engsten Berater des Talibanführers Mullah Omar nach Washington, um auf höchster Ebene zu verhandeln.

Durch das Embargo der UN waren die Taliban seit Jahresbeginn unter immer stärkeren ökonomischen Druck geraten. Sofort nach Bushs Machterschleichung hatte die US-Administration die Anstrengungen in Sachen Taliban und Pipelineforciert. Unter Schirmherrschaft der UN und moderiert von Francesc Vendrell, Kofi Annans persönlichem Referenten, fanden seit Anfang des Jahres einige diskrete »6+2«-Verhandlungsrunden statt, bei denen die sechs Nachbarländer mit den USA und Russland die Situation Afghanistans diskutierten. Bei einigen dieser Treffen waren auch Vertreter der Taliban anwesend, so auch während eines Meetings im Juli in Berlin, bei dem sich nach Angaben des ehemaligen pakistanischen Außenministers Niaz Naik die Diskussion auf die »Bildung einer Regierung der nationalen Einheit« zuspitzte: »Wenn die Taliban dem zugestimmt hätten, wäre sofort ökonomische Hilfe geflossen«, und, so fügte Naik in einem Interview im französischen TV hinzu, »die Pipelines aus Usbekistan und Kasachstan hätten kommen können«. Der Chefverhandler der USA bei diesen Meetings, Tom Simons, soll den Taliban und Pakistan ganz offen gedroht haben: »Entweder die Taliban verhalten sich, wie es von ihnen verlangt wird, oder Pakistanüberzeugt sie, dies zu tun, oder wir werden eine andere Option wählen.« Die Worte, die Simons in diesem Zusammenhang fallen ließ, lauteten angeblich: »eine militärische Operation«. Soweit der pakistanische Außenminister Naik, wie ihn Brisard und Dasquié zitieren, über die Verhandlungsrunden, die im Juli immer mehr auf die Kippe zusteuerten und am 2. August, nach einem letzten Treffen von Talibanvertretern mit der Unterstaatssekretärin Christine Rocca, abgebrochen wurden. Im Februar hätten die Taliban noch angedeutet, dass sie Bin Laden unter Umständen ausliefern würden, aber im Juni, so Brisard und Dasquié, begannen die USA – eher an ihrer Pipeline als an Osama interessiert –, über militärische Aktionen nachzudenken.

Waren es im Februar 2001 immer noch dieselben Überlegungen wie 1996, als der Sudan angeboten hatte, Bin Laden auszuliefern, aber die US-Regierung darauf verzichtete, weil sie laut Washington Post entschied, sich seiner als nützlichem Mitstreiter in ihrem Untergrundkrieg weiter zu bedienen? Waren es dieselben Überlegungen, die dazu geführt hatten, das FBI bei der Untersuchung der Bombenanschläge auf die Khobat Towers in Saudi-Arabien 1996 und die USS Cole im Hafen von Aden im Oktober 2000 zurückzuhalten? Ebenso bei den Ermittlungen gegen die in den USA lebenden Mitglieder des Laden-Clans und ihre Aktivitäten für »wohltätige« Vereine? War John O’Neill – der »beste Terroristenjäger der USA«, wie ihn die New York Post einmal tituliert hatte, diese verordnete Inaktivität im Juli 2001 einfach so leid, dass er als Veteran mit 30 Dienstjahren das Handtuch schmiss?

Anfang des Jahres hatte die US-Botschaft im Jemen seine Rückkehr ins Land zu weiteren Untersuchungen – u. a. im Heimatort von Bin Ladens Vater, aus dem einer der Selbstmordattentäter auf die USS Cole kam – aus »diplomatischen Gründen« blockiert: Seine Ermittler würden sich aufführen »wie Rambos«. »Ich hätte kein Terrorist sein wollen, der von ihm gejagt wird, ich habe erlebt, wie er Himmel und Erde in Bewegung setzt«, bekundete der Anti-Terror-Chef des britischen Scotland Yard in einem Nachruf auf den international geschätzten Kollegen.[153] Ein harter Hund also, dieser John O’Neill, genau der richtige für die Jagd auf fanatische Terroristen – solange sie nicht unter den Fittichen der CIA und der Öldiplomatie stehen. Aufgrund seiner »Dickköpfigkeit« und »Aggressivität« sei er des öfteren mit den Geheimdiensten und dem State Department aneinander geraten, berichtete die New York Times bei seinem Rücktritt im August, der von einer internen Ermittlung gegen O’Neill überschattet war: Bei einem Meeting in Florida hatte er im Hotel eine Aktentasche mit sensiblen FBI-Unterlagen vergessen, die verschwunden war, am nächsten Tag aber unangetastet wieder auftauchte. Obwohl er seinen Fauxpas sofort gemeldet hatte, wurden die Ermittlungen gegen ihn an die große Glocke gehängt – eine »Schmierenkampagne«, wie viele seiner Kollegen meinten, denn O’Neill war, ohne dass er sich darum gedrängt hätte, für den Posten eines Nationalen Sicherheitsberaters vorgeschlagen worden. So reichte es dann, nach einer glanzvollen FBI-Karriere und mit 50 im besten Alter, nur zum Security Chef der Twin Towers, wo er am 1. September seinen Dienst antrat. Nach dem Einschlag des ersten Flugzeugs telefonierte er mit seinem Sohn, dass er im Freien und in Sicherheit sei – dann ging er wohl in das Gebäude zurück, um bei der Rettung zu helfen, und kam ums Leben. Seine Überreste wurden mittlerweile geborgen.

Wenn der Regisseur Oliver Stone, der schon die Kennedy- und die Watergate-Verschwörung zu Filmen gemacht hat, auch die WTC-Conspiracy in Szene setzen würde, er fände in George W. Bush, der auf dem Ticket der Terroristenjagd Ölkrieg führt, und in John O’Neill, dem kaltgestellten Jäger Osama Bin Ladens, zwei überaus geeignete Protagonisten.

Wer John O’Neill war, hat der New Yorker in einem ausführlichen Porträt geschildert. Es gibt sogar eine eigene Internetseite, die seinem Gedenken gewidmet ist. Schon als kleiner Junge wollte John O’Neill zum FBI, und er brachte es dort so weit, dass er später gern mit einem Grinsen sagte: »Ich bin das FBI.« Im Juli 2001 verließ er seinen Traumjob als frustrierter, trauriger Mann. Hätte man ihn seinen Job machen lassen, dann wären die Terrorhäfen Saudi-Arabien und Jemen im 01-Monopolyspiel der Bush-Regierung nicht sakrosankt und Bin Laden & Co. vielleicht schon vor dem 11.9. hinter Gittern gelandet. Dass sie unter der schützenden Hand der Geheimdienste und des State Department stehen, hatte O’Neill wohl zu spät bemerkt – sonst hätte er nicht den Fehler gemacht, sich davon frustrieren zu lassen und zu kündigen. Obwohl dieser Fall mit Sicherheit einer der tragischsten aller am 11. 9. ums Leben gekommenen Menschen ist, spielte der Tod O’Neills in den US-Medien kaum eine Rolle. Besser nicht dran rühren – die öffentliche Aufmerksamkeit, erst einmal geweckt, könnte ja eine falsche Richtung nehmen.

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