Acht Thesen, warum die unipolare Welt zu Ende geht

 

Aus der Einleitung meines neuen Buchs “Vom Ende der unipolaren Welt” hier acht Thesen, warum das Ende der unipolaren Welt unausweichlich ist.

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»Das Glück ist immer auf der Seite der großen Bataillone« – die auch vom Preußenkönig Friedrich II. überlieferte französische Redensart muss im 21. Jahrhundert umformuliert werden. Nachdem The (Real) Revolution in Military Affairs stattgefunden hat, so das gleichnamige Buch von Andrei Martyanov (2019), ist das Kriegsglück jetzt auf der Seite der »hypersonischen Waffen«: Präzisions-Raketen, die aufgrund ihrer extremen Geschwindigkeit von keinem Luftabwehrsystem abgefangen werden können und ihr Ziel aus tausenden Kilometern Entfernung auf den Meter genau treffen. Da nur Russland (und demnächst auch China) über solche Waffen verfügt – und ganz abgesehen davon, dass diese Raketen auch mit Nuklearsprengköpfen ausgestattet sein können –, sind USA und NATO in jeder direkten militärischen Auseinandersetzung unterlegen. Auch ihre vielfach größeren Bataillone können da nicht helfen. Selbst ein massiver nuklearer »Erstschlag« auf Moskau und Sankt Petersburg kann eine durchschlagende Antwort auf Washington, New York oder London nicht verhindern – gegenseitige Vernichtung ist garantiert. Oder besser: war garantiert. Denn die überlegenen Luftverteidigungs-Systeme (S-400/S-500) können den russischen Luftraum für ballistische Raketen schließen und den »Erstschlag« höchstwahrscheinlich abfangen. Doch auf den russischen Gegenschlag gibt es im Westen keine Verteidigung. Deshalb kann und wird die NATO in der Ukraine militärisch nicht direkt eingreifen.

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Mit der Ankunft hypersonischer Präzisionswaffen auf dem Schlachtfeld – im Rahmen der russischen »Militäroperation« in der Ukraine wurden solche »Kinzhal«-Raketen erstmals eingesetzt – verändert sich die militärische Lage für das US-Imperium grundsätzlich und dramatisch. Nicht nur ist die Doktrin militärischer »Full Spectrum Dominance« des Globus haltlos geworden, erstmals in seiner Geschichte ist das »Homeland« der USA selbst nicht mehr sicher. Aus ihrer günstigen Lage – »Die Amerikaner sind ein sehr glückliches Volk. Sie sind im Norden und Süden von schwachen Nachbarn umgeben und im Osten und Westen von Fischen«, hatte sie einst Otto von Bismarck angeblich mal umschrieben – können sie keinen Gewinn mehr ziehen. Das Zeitalter der »billigen Kriege« und von Gegnern, vor denen man zu Hause nichts zu befürchten hatte, ist vorbei und wird nicht wiederkehren. Deshalb wird Russland mit seinen wohl noch auf längere Zeit unbesiegbaren Waffen seine im Dezember 2021 in Washington vorgebrachten Sicherheitsinteressen – militärische Neutralität der Ukraine, Rückzug von NATO-Mittelstrecken Raketen aus Osteuropa – so lange mit »militärisch-technischen Mitteln« durchsetzen, bis wasserdichte und schusssichere Verträge darüber vorliegen. Die USA können diesen Prozess in die Länge ziehen, indem sie weiter »bis zum letzten Ukrainer« (oder Europäer) kämpfen lassen, doch verhindern sie können sie ihn nicht.

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Die geopolitische Strategie des kollektiven Westens – mit dem Ukraine-Konflikt und wirtschaftlichen Sanktionen einen Regime Change in Moskau herbeizuführen und dann den »Endgegner« China anzugehen – ist zum Scheitern verurteilt. Die Sanktionen haben sich schon jetzt als gefährlicher Bumerang erwiesen, weil sie Europa stärker treffen als Russland, das international keineswegs isoliert, sondern jenseits von NATOstan (in etwa 15 Prozent der Weltbevölkerung) mit dem Rest der Welt weiter bestens im Geschäft ist und mit China wirtschaftlich und militärisch so eng zusammenarbeitet wie nie zuvor. Gegen den Rohstoff-Giganten Russland – es verfügt über mehr als ein Drittel aller fossilen Energien und Rohstoffe der Erde – und die mit ihm vereinte weltgrößte High-Tech-Werkstatt China einen Krieg gewinnen zu wollen, ist eine selbstmörderische Illusion.

Mit der absehbaren militärischen Niederlage in der Ukraine ist ein entscheidender geopolitischer Wendepunkt markiert: das Ende einer von Washington diktierten und militärisch durchsetzbaren »regelbasierten internationalen Ordnung«. Und damit auch ein Ende der Rolle des »Petro-Dollars« als erzwungener internationaler Reservewährung sowie des US-Dollars als »billigem Geld«, das in Unmengen gedruckt werden konnte, ohne an Wert zu verlieren, weil die ganze Welt, um ihr Öl und Gas zu bezahlen, für stetige Dollar-Nachfrage sorgte. Die letzten beiden Staatsmänner, die das Petro-Dollar-Monopol brachen und ihr Öl gegen Landeswährung anboten – Iraks ehemaliger Staatspräsident Saddam Hussein und Libyens ehemaliges Staatsoberhaupt Muammar al- Gaddafi – konnten von NATOstan noch weggebombt werden. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Schon zahlt etwa Indien sein Öl in Rubel gegen Rupien und weitere Länder werden dem Beispiel folgen. Ein alternatives globales Geld- und Finanzsystem mit einer rohstoff- und goldgedeckten internationalen Währung ist im Entstehen begriffen, das die globale Alleinherrschaft des Dollars und des westlichen Finanzkapitals beenden wird.

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Eine EU, die sich auf Befehl der USA selbst stranguliert und von billiger Energiezufuhr aus Russland abschneidet, gibt nicht nur ihre wirtschaftliche Zukunft auf, sondern auch jede Souveränität. Sobald der Bumerang-Effekt der Sanktionen richtig zuschlägt – bisher hat Russland seine »Energiewaffe« noch gar nicht eingesetzt und beliefert Deutschland über die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 vertragsgemäß weiter – müssen sich vor allem die großen europäischen Nationen fragen, ob sie sich einem Schicksal als abgehängte Kolonien des US-Imperiums wirklich ergeben wollen. Und wenn ja, wie sie als Regierende ihren arbeitslosen, verarmenden, frierenden Bürgern eine derart aussichtslose Zukunft verkaufen können, ohne mit Schande aus dem Amt gejagt zu werden. Dass »Freiheit und Demokratie« jetzt für die nächsten zwanzig Jahre statt am Hindukusch am Donbass verteidigt werden müssen, wird ihnen niemand mehr abkaufen. Eine EU ohne billige russische Rohstoffe ist global nicht wettbewerbsfähig und wird auseinanderfallen. Die Nationen werden sich entscheiden müssen: für den permanenten Krieg als Vasallen Washingtons, mit dem Ziel Regime Change in Moskau und Peking; oder für Handel und Wandel mit Russland und Eurasien, mit dem Ziel eines neuen Sicherheits- und Friedensvertrags in Europa.

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Weil im ersten Kalten Krieg die militärischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten der Sowjetunion im Westen regelmäßig überschätzt wurden, kam ihr Zusammenbruch 1990/91 völlig überraschend. Der Kreml-Propaganda war es über Jahre gelungen, negative Entwicklungen schlicht unter dem Teppich zu halten. Im nunmehr neuen Kalten Krieg hat sich die Lage grundlegend verändert: Russland wird militärisch und wirtschaftlich heftig unterschätzt und die USA sind in einen Modus permanenter Erschaffung »alternativer« Realitäten verfallen, gegen den die gute alte Sowjetpropaganda geradezu verblasst. »Russiagate« zum Beispiel, die von A bis Z erfundene Story, dass Donald Trump von Putin erpresst und die US-Wahl von unsichtbaren »russischen Hackern« manipuliert wird, wurde fünf Jahre lang über alle Kanäle als Wirklichkeit präsentiert, samt Hillary Clinton, die so die »Putin = Hitler«-Gleichung schon 2016 in die Welt setzen konnte. Nicht nur die Medien waren in tragender Rolle als »Lügenpresse« in die Scharade involviert, auch Geheimdienste, FBI und der US-Kongress spielten ungeniert mit. Mit dieser faktenfreien Fake-News- Kampagne wurde der Grundstein für das anti-russische Narrativ gelegt, das mit der Zuspitzung des Ukraine-Konflikts dann in den Turbo-Modus überführt wurde. In dem dann die beispiellosen Sanktionskampagne startete, die aber auf einer weiteren Fehleinschätzung der Fähigkeiten Russlands beruhte. Dieses Mal einer groben Unterschätzung: Völlig überraschend für die US-Think- Tanker und »Experten« stellte sich heraus, dass sich die russische Wirtschaft und der Rubel nicht durch »Einfrieren« (vulgo: Diebstahl) der russischen Dollar- und Euro-Reserven einfach ruinieren lässt. Russland hat trotz Sanktionen in den ersten fünf Monaten 2022 um 50 Prozent mehr mit dem Export von Öl und Gas eingenommen als im Vorjahreszeitraum und wird auch fortan unter den Sanktionen weitaus weniger leiden als der Westen. Und der Rubel, den Joe Biden zu »Rubble« (dt.: »Schutt«) zertrümmern wollte, ist die stärkste Währung des Jahres 2022.

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Dass die NATO schon lange kein »Verteidigungsbündnis« mehr ist, sondern seit 1999 mit Angriffskriegen mehr Verwüstung und Katastrophen gestiftet hat als jedes andere Militärbündnis, ist keine russische Verschwörungstheorie, sondern historische Tatsache. Wie von Jugoslawien gingen auch vom Irak, von Libyen, Syrien oder zuletzt Afghanistan keine Gefahren für die USA oder Europa aus – und dennoch »verteidigte« die NATO dort kräftig mit, als Vasall der geopolitischen Interessen des US-Imperiums. Diese angeblich zwecks Verbreitung von »Demokratie«, »Freiheit« und »Menschenrechten« geführten Kriege haben nichts als mörderisches Chaos angerichtet und dazu geführt, dass es etwa in Libyen – dem zuvor prosperierendsten Land Afrikas – mittlerweile wieder offene Sklavenmärkte gibt. Und jetzt in der Ukraine Bataillone lupenreiner Nazis, die von der NATO trainiert und aufgerüstet wurden, um als Speerspitze den Kampf gegen Russland und gegen die russischsprachigen Ukrainer in der Donbass-Region zu führen. Diese Angriffe, die seit 2014 über 13 000 zivile Opfer gefordert haben, zu beenden, ist das erklärte Ziel der sogenannten russischen »Militäroperation«, das mutmaßlich bald erreicht sein wird, da die ukrainische Armee derzeit (Mitte Juni 2022) täglich 500 getötete oder verletzte Soldaten verliert. Für die NATO, die diese Armee und den Krieg mit allen Mitteln (außer mit Bodentruppen) unterstützt und sich – gerade von einer Barfuß-Truppe aus Afghanistan vertrieben – dank der russischen Intervention wieder »vereint wie nie« fühlt, würde dies eine weitere, demütigende Niederlage bedeuten. Weil Russland seine Sicherheitsinteressen nicht nur in der Ukraine, sondern auch in den Nachbarländern notfalls »militärisch-technisch« durchsetzen wird – und die NATO nichts dagegen unternehmen kann –, macht sie sich als »Schutzmacht« definitiv überflüssig. Und damit macht sie zugleich den Weg frei für eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa und Asien, die von Lissabon bis Peking reicht.

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Nicht die »Ostpolitik« von Willy Brandt und Egon Bahr (»Wandel durch Annäherung«), die von dumpfen Bellizisten derzeit als »historischer Fehler« beschimpft wird, war falsch, sondern die Politik der USA, ihre Raketen um jeden Preis, auch um den eines Kriegs, in der Ukraine aufzustellen. Nicht Russlands Drängen auf eine Wiedervereinigung nach den Minsk-Abkommen war der historische Fehler, sondern die Ignoranz gegenüber russischen Sicherheitsbedenken und die Aufrüstung der Ukraine. Und nicht die zuverlässige, naheliegende und günstige Versorgung Deutschlands mit russischem Öl und Gas ist der »Jahrhundertfehler« (Der Spiegel), sondern die anglo-amerikanische Strategie das Zusammenwachsen Eurasiens, besonders eine deutsch-russische Kooperation, zu verhindern. Zweimal ist das im vergangenen Jahrhundert gelungen, um den Preis zweier Weltkriege. Wenn Europa nicht erneut zum Schlachtfeld eines Weltkriegs werden will, darf es sich nicht länger vor den Karren dieser geopolitischen Strategie spannen lassen. Ihr Scheitern ist mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine evident geworden. Es markiert das Ende der unipolaren Welt und dem von den amerikanischen Neokonservativen seit drei Jahrzehnten betriebenen Projekt, in jeder Region der Welt über die militärische Vormachtstellung zu verfügen, die jede aufstrebende Macht zur Unterwerfung zwingt. Damit ebenfalls beendet wird die Hegemonie des von der Wall Street und der City of London kontrollierten Finanzkapitals und der globalen Währungspolitik. Mit der gold- und rohstoffgedeckten Verrechnungs- einheit auf Rubel/Yuan-Basis entsteht für 85 Prozent der Welt eine höchst willkommene Alternative zum schuldenbasierten FIAT-Money, den Dollars und Euros der westlichen Hemisphäre.

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»Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen«, hat Albert Einstein gesagt. Heute, da wir über das verfügbare Arsenal ziemlich sicher sind, ist seine Warnung dringlicher denn je. Wem es um ein Ende des Konflikts geht, darf keine Waffen liefern, wer das Leid der Menschen in der Ukraine beenden will, muss verhandeln statt schießen, wer Frieden will, darf nicht dem Plan der anglo-amerikanischen Geo-Strategen folgen, den Russen in der Ukraine »ihr Afghanistan« zu bereiten und sie in einen endlosen Guerillakrieg zu verwickeln. Und schon gar nicht darf er sich dazu – zumal als Deutscher – mit lupenreinen Nazis des Asow-Regiments verbünden. Und sollte sich fragen, was eigentlich verdammt noch mal gegen die Sicherheitsforderungen Russlands – eine militärisch neutrale Ukraine – spricht. Und warum man diese nicht ernst nehmen und um des lieben Friedens willen endlich akzeptieren kann. Bis es so weit ist, bleibe ich »Putinversteher« und bitte alle NATO-Versteher und Freunde der Jugoslawien-, Irak-, Libyen-, Syrien- und Afghanistan- Kriege, ihre Position zu überdenken. Peace!

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Soeben erschienen:
Mathias Bröckers : Vom Ende der unipolaren Welt , ‎ Fifty-Fifty (2022),  288 Seiten, 20 Euro

 

 

 

 



Der internationale Bestseller über die Geschichte und Hintergründe des Ukraine-Kriegs:

Mathias Bröckers/Paul Schreyer: Wir sind IMMER die Guten – Ansichten eines Putinverstehers oder wie der kalte Krieg neu entfacht wird, Westend Verlag (2019)

 

 

“Die größte Stellvertreterarmee, die das US-Imperium je hatte“

„Was sonst?“ So reagiert Mathias Bröckers im NachDenkSeiten-Interview auf die Frage, ob er in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg erkennt und merkt an: „Wäre es ´nur´ ein blutiger Nachbarschaftsstreit, wäre er doch schon längst beendet oder erst gar nicht derart ausgeartet.“ Bröckers, der gerade das Buch „Vom Ende der unipolaren Welt – Warum ich gegen den Krieg, aber noch immer ein Putin-Versteher bin“ veröffentlicht hat, ordnet im Interview den Krieg in der Ukraine ein und sagt: „Eine Kuba-Krise 2.0 „ ist „im Gange.“ Von Marcus Klöckner

Für viele beginnt der Krieg in der Ukraine am 24. Februar dieses Jahres. Aber ist das wirklich der Beginn des Krieges?

Der Krieg in der Ukraine begann schon vor acht Jahren, nach dem gewalttätigen, illegalen Regierungsumsturz in Kiew, den weite Teile der Bevölkerung im Osten und auf der Krim nicht anerkennen wollten und ihre Autonomie erklärten. Danach eskalierte der Konflikt zu einem bewaffneten Bürgerkrieg, der trotz der Abkommen über einen Waffenstillstand und eine friedliche Wiedervereinigung (Minsk 1 & 2) bis heute nicht beendet ist. Der mit dem Wahlversprechen, Frieden zu schaffen, 2019 zum Präsidenten gewählte TV-Komiker Wolodymyr Selenskyj machte dann eine 180-Grad-Wende und erließ im März 2021 ein Dekret zur militärischen Rückeroberung der Krim und der Donbass-Region. Statt Friedensverhandlungen wurden die Truppen aufgerüstet und von NATO-Ausbildern trainiert und die Anführer der rassistischen Asow-Brigaden von Selenskyj als »Helden der Ukraine« mit Orden ausgezeichnet.
Im Dezember hatte Russland in den USA ultimativ Verhandlungen gefordert über das Ende dieser Kampfhandlungen, denen mehr als 10.000 Zivilisten zum Opfer gefallen waren, und über die russischen Sicherheitsbedenken zu einem NATO-Beitritt der Ukraine. Doch statt mit Russland zu reden, wurde eine Offensive auf die »Volksrepubliken« gestartet und über die westlichen PR-Maschinen Gerüchte einer russischen Invasion gestreut. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) registrierte, dass die Attacken an der Front seit Anfang Februar massiv zunahmen – von einem Dutzend „Waffenstillstandsverletzungen“ in den Monaten zuvor auf über 1.000 pro Tag. Nur wer diese Vorgeschichte ausblendet, kann glauben, der Krieg in der Ukraine habe erst mit dem russischen Einmarsch am 24. Februar begonnen.

In vielen Medien scheint es nur eine Wahrheit zu geben: Russland hat einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen. Deshalb ist Russland der Aggressor und der Westen, also „die Guten“, müsse der Ukraine helfen. Was halten Sie von dieser Medienerzählung?

Angesichts des Dauerfeuers auf die Donbass-Region sah Putin keine andere Möglichkeit, als die vom russischen Parlament schon lange geforderte und beschlossene Anerkennung der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk zu unterzeichnen – und ihrem militärischen Beistandsersuchen nachzukommen. Dem russischen Präsidenten werden ja von Wahnsinn bis Blutrunst gern alle Übel der Welt angedichtet, ziemlich sicher aber ist er ein akribischer Bürokrat und völkerrechtlicher Formalist. Ohne offizielle Anerkennung, ohne formelles militärisches Beistandsersuchen keine „Militäroperation“. Russland hat sich insofern – anders USA und NATO bei ihrem illegalen Bombardement Jugoslawiens, das unter dem Stichwort »Responsibility To Protect« verkauft wurde – völkerrechtlich, zumindest formal, weniger zuschulden kommen lassen als der Westen. Auch wenn die westlichen ThinkTanker, unsere eher vom Völkerball kommende Außenministerin und die „Tagesschau“ das natürlich anders sehen. Wir sind immer die Guten. Wer über die russische „Militäroperation“ nicht als „Angriffskrieg“ spricht, keine martialischen Adjektive („brutal“, „grausam“) verwendet und nicht eindeutig klarstellt, dass es in diesem Konflikt nur einen einzigen Bösen gibt, macht sich mittlerweile der „Kreml-Propaganda“ schuldig. Das funktioniert aber auch nur durch Ausblenden der Vorgeschichte, denn kein anderes Militärbündnis hat in den letzten Jahrzehnten mehr „Angriffskriege“ geführt als die NATO, die Millionen Opfer (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien) auf dem Gewissen hat.

Nach diesen Ausführungen werden einige Ihnen wohl vorwerfen, den Angriff Russlands zu rechtfertigen.

Mit diesem Hinweis will ich den russischen Einmarsch nicht rechtfertigen, sondern in den globalen, geopolitischen Kontext stellen, in dem er stattfindet und in dem USA und NATO eigentlich die Letzten sind, die sich über aggressive Militäreinsätze und Völkerrechtsbrüche beschweren dürfen. Sie können das nur so ungeniert tun, weil als ungeschriebener Artikel 1 ihrer „regelbasierten internationalen Ordnung“ nach wie vor das klassische „Quod licet Jovi non licet bovi“ (Anmerk. Red.: Was dem Jupiter erlaubt, ist noch lange nicht dem Ochsen gestattet) gilt. Nur weil die eigene Aggressivität konsequent ausgeblendet und der Konflikt ohne Kontext dargestellt wird, kann ein alleiniger Aggressor fixiert werden. Tatsächlich hat dieser Krieg aber eine lange Vorgeschichte, die noch weiter zurückgeht als der Maidan-Umsturz 2014 und auch da mischte der „Westen“ kräftig mit …

Wie sieht denn die „Vorgeschichte der Vorgeschichte“ dieses Krieges aus? Welche Rolle spielt die CIA?

In dem Buch „Wir sind die Guten“ (2014) und der erweiterten Neuauflage „Wir sind IMMER die Guten (2019) haben Paul Schreyer und ich auch diese Geschichte beleuchtet, die schon damit begann, dass man den ukrainischen SS-Sturmbannführer Stepan Bandera nach Kriegsende unbehelligt ließ und mit seiner Nazi-Miliz weiter unterstützte. Als das nicht mehr ging, gewährten ihm BND/CIA unter dem Namen „Popel“ Unterschlupf in München, von wo er Terroranschläge in Tschechien und der West-Ukraine organisierte – bis er 1959 vom KGB aufgespürt und mit Blausäure vergiftet wurde.

Wie wir in unserem Buch gezeigt hatten, wurde in der Ukraine der Aufbau einer ultra-nationalistischen Ideologie von der CIA (Central Itelligence Agency) zwecks Destabilisierung der Sowjetunion schon seit den 1950er Jahren betrieben und fiel vor allem in der West-Ukraine – den vor den beiden Weltkriegen österreichisch-ungarischen Regionen – auf fruchtbaren Boden. Was dazu beitrug, dass in der seit 1991 selbstständigen ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine keine nationale Erzählung, keine gemeinsame ukrainische Identität entstehen konnte. Wobei eine solche ohnehin kaum wachsen kann, wenn sich ein Teil der Bevölkerung als Opfer (des sowjetischen Kommunismus, der »Russen«) fühlt und der andere als Sieger (über den Faschismus, die »Nazis«). Diese Zerrissenheit des Landes wurde vom Westen gezielt geschürt und genutzt und eskalierte dann nach dem Maidan-Putsch zu einem gewaltsamen Bürgerkrieg, der bis heute nicht beendet ist.

In deutschen Medien kommt der Begriff „Stellvertreterkrieg“ so gut wie nicht vor. Sehen Sie einen Stellvertreterkrieg?

Was sonst? Wäre es „nur“ ein blutiger Nachbarschaftsstreit, wäre er doch schon längst beendet oder erst gar nicht derart ausgeartet. Aber weder die USA noch in ihrem Schlepptau die EU hatten ein Interesse an einer friedlichen Wiedervereinigung, die „Minsk“-Verhandlungen waren kaum mehr als eine Show, sie wurden, wie Ex-Präsident Poroschenko unlängst sagte, bewusst verschleppt, „um die Armee aufzubauen“. Das geschah dann auch, sodass die Ukraine Ende 2021 über die größte Landstreitmacht Europas verfügte, aufgerüstet und ausgebildet von der NATO und aufgestellt nicht für die Ukraine, sondern gegen Russland – die größte Stellvertreterarmee, die das US-Imperium je hatte. Und deshalb auch glaubte, einfach ignorieren zu können, als Russland im Dezember ultimativ Verhandlungen über seine Sicherheitsinteressen anmahnte und stattdessen die Stellvertreter in Kiew Anfang Februar animierte, Angriffe auf die Donbass-Region zu starten. So wurde eine Reaktion Russlands unausweichlich und die USA bekamen den Krieg, den sie wollten. Als sie letztes Jahr von einer Barfuß-Truppe aus Afghanistan vertrieben worden waren, hatte ich den Militärstrategen und Air-Force-Piloten John Boyd zitiert: „Die Leute sagen, das Pentagon hätte keine Strategie, aber sie liegen falsch. Das Pentagon hat eine Strategie und sie lautet: Unterbreche niemals den Geldfluss, vermehre ihn.“ Insofern läuft alles prima. Ich habe die aktuellen Zahlen nicht zur Hand, aber es ist sicher der wärmste Regen für den militärisch-industriellen Komplex seit 9/11.

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3. JT #84: Bombenspiel

Eine schmutzige Bombe soll den Krieg in der Ukraine eskalieren – behaupten die Russen. Bilden die sich das nur ein oder steckt mehr dahinter? Außerdem: Das Kanzleramt will China erlauben, sich in Hamburg einzukaufen, aber das eigentliche Thema ist nicht der Hafen. Und nach der Sprengung von Nord Stream 2 läuft zwar keine richtige Ermittlung, aber dafür läuft die Propagandamaschine auf Hochtouren. Über all das und mehr berichten Robert Fleischer, Dirk Pohlmann und Mathias Bröckers in Ausgabe #84 des 3. Jahrtausends.

 

Notizen vom Ende der unipolaren Welt – 58

Nach der vom Bundestag am Donnerstag ohne Ankündigung  im Eilverfahren beschlossenen Gesetzesänderung kann die “Verharmlosung” von Kriegsverbrechen und Völkermord künftig wegen  „Volksverhetzung“ (§ 130 StGB) bestraft werden. Verstöße können mit bis zu drei Jahren Haft geahndet werden.


In einer “Gemeinsamen Erklärung” des Parlaments, die verlesen wurde, heißt es:
“Dass mörderische Kriegsverbrechen, denen in den vergangenen Jahrzehnten Millionen von Menschenleben zum Opfer gefallen sind, in der Öffentlichkeit weiterhin als “Intervention” oder “Stabilisierungseinsatz” zur “Verteidigung von Menschenrechten und Freiheit” verharmlost werden, kann eine an demokratischen Werten orientierte Gesellschaft nicht hinnehmen. Es kann und darf nicht sein, dass mörderische Bombardements und Zerstörungen wehrloser Länder durch Desinformation und Propaganda mit dem Anschein von Legalität lackiert und  gebilligt, geleugnet oder verharmlost werden.
Zum Zweck einer eindeutigen Definition kriegsverbrecherischer Tatbestände und ihrer Ermittlung und Verfolgung hat der Bundestag gleichzeitig beschlossen, die “Aufklärung von Kriegsverbrechen” ab sofort unter seinen besonderen Schutz zu stellen und dem von 175 Jahren Haft bedrohten Wikileaks-Gründer Julian Assange…”

…hier stürzte der Teleprompter ab, den eindeutig russische Hacker offensichtlich gekapert hatten, um die Beschlussfassung des Bundestags und die deutsche Demokratie zu manipulieren. Der Generalbundesanwalt hat Ermittlungen angekündigt, sobald die fieberhafte Fahndung nach den Tätern der Nordstream-Attacke abgeschlossen ist.
Im letzten Jahr hatte die EU-Kommission Deutschland abgemahnt, weil die strafrechtliche Verfolgung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit unzureichend umgesetzt sei: “So ist sind nach deutschem Recht das öffentliche Leugnen oder das gröbliche Verharmlosen von Völkerrechtsverbrechen nicht unter Strafe gestellt”, hatte die Kommission erklärt. Da Deutschland eines der wenigen Länder ist, in dem die Leugnung des Holocausts unter Strafe steht, ist diese EU-Abmahnung, die auch an Ungarn und Luxemburg erging, eigentlich verwunderlich. Welche Gesetzeslücke die EU-Juristen im deutschen StGB da entdeckt haben, ist mir offengestanden ein Rätsel. LTO klärt auf: “Anders als bei der Billigung, Leugnung oder Verharmlosung des Völkermords unter der Herrschaft des Nationalsozialismus (z.B. der Holocaust-Leugnung) nach § 130 Abs. 3 StGB, wonach den Tätern bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe drohen, ist nach der neuen Vorschrift nur das “gröbliche Verharmlosen” strafbar.”

Also aufgepasst und nicht grob werden! Die Richter, die nach dem neuen Abs.5 des § 130 jetzt beurteilen müssen, wo das “sanfte” oder “normale” Verharmlosen aufhört und das “gröbliche” und somit strafbare anfängt, werden es nicht leicht haben. Ganz abgesehen davon, dass auch die Kategorie “Kriegsverbrechen” oft einen hohen Grad an Unschärfe und Interpretationsspielraum aufweist. Zählen nur behauptete oder zweifelsfrei nachgewiesene Taten, wer entscheidet, ob es sich um erlaubte oder verbrecherische Kriegshandlungen handelt ? Macht sich nach § 130 Abs.5 schuldig, wer die Ex-Präsidenten Bill Clinton (Jugoslawien), George Bush (Irak) oder Obama (Libyen) in hohen Tönen lobt und damit “gröblich” ihren Masssenmord an Hundertausenden verharmlost ? Und wie steht es mit Hassreden und Hetze, deren laut EU unzureichender Strafverfolgung mit dem neuen Gesetz jetzt abgeholfen werden soll ? Kann der  “Friedenspreis des Buchhandels” dann noch für Aussagen wie “Die Russen sind Barbaren” und “Brennt in der Hölle, ihr Schweine!” vergeben werden ? Und wenn ja – wo doch  die “Zeit” gutachtet: “Die Literatur wehrt sich mit ihren Mitteln. Und kämpft für nichts anderes als Frieden.” – ist derlei wehrhafte,  “friedensfördernde” Literatur auch noch lobenswert, wenn nicht Russen, sondern Juden, Chinesen oder “Nigger” ins Feuer geschickt werden ? Wir dürfen gespannt sein: “Dem zuständigen Berichterstatter der FDP-Bundestagsfraktion Thorsten Lieb zufolge hat die Änderung des § 130 StGB “in erster Linie klarstellenden Charakter, um den Anforderungen des (EU-)Vertragsverletzungsverfahrens gerecht zu werden”. Sie sei jedenfalls “kein lex Putin” und solle auch so nicht verstanden werden.”

Was den “klarstellenden Charakter” des neuen Gesetztes betrifft, bleiben neben den oben gestellten Fragen auch noch viele andere offen, beziehungsweise den Auslegungen und Interpretationen der Richter vorbehalten – und damit auch der Willkür, durchaus als “Lex Putin” verstanden und angewendet zu werden. Wenn nach Inkrafttreten des Gesetzes zum Beispiel jemand den Untertitel meines neuen Buchs “Warum ich gegen Krieg, aber noch immer “Putinversteher” bin”   zur Anzeige  bringt –  als Verharmlosung eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs und Billigung eines brutalen Kriegsverbrechers  – muss sich die ohnehin überlastete Justiz mit diesem groben Unfug befassen. Und falls ein empfindsamer Staatsanwalt hier schon ein “gröbliches” Verharmlosen sieht, sogar zur Anklage bringen. Nicht dass mir deswegen jetzt die Knie schlottern, doch es ist zu befürchten, dass mit dem neuen Gesetz ein Hebel geschaffen wird, den öffentlichen Meinungskorridor weiter zu “desinfizieren”. Nachdem sich mit Corona die Methoden der Schädlingsbekämpfung im Debattenraum schon erfolgreich durchgesetzt haben, steht damit eine weitere “Einhegung” der Presse,- Meinungs, – und Gedankenfreiheit an. Natürlich alles im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung…wie es Kollege Seyfried schon in den 70ern gefühlt hat, mit einem fröhlichen Liedchen auf den Lippen…

UPDATE: Thomas Fischer, Ex Bundesrichter, stellt klar:

“Bisher ist das Leugnen und Verharmlosen nämlich nur in Bezug auf die Holocaust-Taten strafbar, ein Rahmenbeschluss der EU verlangt aber die umfassende Strafbarkeit des Leugnens, Billigens und Verharmlosens auch von anderen Völkermord- und Kriegsverbrechen. Die Gruppe oder der Bevölkerungsteil oder die Person, gegen die sich die geleugnete (usw.) Tat richtete, muss eine solche »nach Abs. 1« sein. Und von Absatz 1 sind nach ständiger Rechtsprechung nur Teile der inländischen Bevölkerung umfasst. Also: Wenn Huti die Verbrechen an Tutsi leugnen, ist das nicht nach dem deutschen Paragrafen 130 StGB strafbar. Auch nicht, wenn ein Deutscher russische Kriegsverbrechen in der Ukraine oder amerikanische Kriegsverbrechen im Irak leugnet oder grob verharmlost.”


(wird fortgesetzt)

Alle bisher erschienen “Notizen” hier

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Soeben erschienen:
Mathias Bröckers : Vom Ende der unipolaren Welt , ‎ Fifty-Fifty (2022),  288 Seiten, 20 Euro

 

 

 

 



Der internationale Bestseller über die Geschichte und Hintergründe des Ukraine-Kriegs:

Mathias Bröckers/Paul Schreyer: Wir sind IMMER die Guten – Ansichten eines Putinverstehers oder wie der kalte Krieg neu entfacht wird, Westend Verlag (2019)

 

 

 

 

 

Notizen vom Ende der unipolaren Welt – 57

Seit heute ist “Vom Ende der unipolaren Welt” überall im Buchhandel erhältlich. In dem Gespräch, das ich mit Robert Stein über das Buch geführt habe, meinte er am Ende, er sei schon auf die Fortsetzung “Vom Anfang der multipolaren Welt” gespannt. Das bin ich auch, selbst wenn ich eine Fortsetzung des Buchs gar nicht vorhabe, doch diese Transformation ist unausweichlich. Wir stehen am Ende einer unipolaren Welt, in der Washington und Wall Street die Regeln der »regelbasierten internationalen Ordnung« bestimmen und mit Gewalt durchsetzen konnten. Und am Beginn einer multipolaren Ordnung, bei deren Regeln Moskau und Peking und mit ihnen nahezu der gesamte »globale Süden« ihr Wort mitreden werden. Die politischen Gezeiten und die globale Tektonik verschieben sich, das “amerikanische Jahrhundert” wird sich – wie die Zeitalter aller großen Imperien – wegen Überdehnung und Überheblichkeit aus der Weltgeschichte verabschieden: “Diese Entwicklung »zivilisiert« – mit Vernunft, Verhandlungen, Diplomatie – verlaufen zu lassen und nicht »barbarisch« – mit Raketen, Bomben, Krieg – ist die große Herausforderung unserer Tage. »Verstehen«, warum Putin Krieg in der Ukraine führt, hat nichts mit »Verehren« des Präsidenten oder akzeptieren der Invasion zu tun, ist aber Grundvoraussetzung, um das Gemetzel zu stoppen…” heißt es dazu im Nachwort.
Und wenn dann endlich verhandelt wird, über die unausweichliche Teilung der Ukraine, werden Moderatoren mit historischer Erfahrung mit geteilten Ländern, Mauerbau etc. gebraucht, Experten bei der (halbwegs) zivilisierten Organisation der Grenzen und Gräben im Kalten Krieg, der Spaltung zwischen den “Blöcken” : die Deutschen. Mit dem Ziel, dass es künftig an den (provisorischen) Grenzen zur Ostukraine so (vergleichsweise) unblutig verläuft wie 25 Jahre lang an den Grenzen zu Ostdeutschland. Verhandlungsort: Checkpoint Charlie, Berlin. Zugegeben ist eine solche Friedensmission mit Olaf “Kein Diktatfrieden Putins” Scholz und Annalala “Russland ruinieren” Baerbock derzeit  undenkbar, aber ihr Kollege Habeck – der beste Wirtschaftsminister, den Russland je hatte – arbeitet derart zügig, dass ein Gesinnungswandel bald unvermeidlich wird.

Laut verschiedenen Berichten hat der russische Verteidigungsminister seinen westlichen Kollegen gegenüber in den letzten Tagen ernsthafte Besorgnis geäußert, dass die Ukraine eine nukleare dirty bomb einsetzen könnte, um sie Russland in die Schuhe zu schieben und eine Antwort der NATO zu provozieren. Dass solche False Flag Operationen  zum Repertoire westlicher Kriegsführung gehören, war zuletzt im Syrien-Krieg zu erleben, als im letzten Moment verhindert wurde, dass ein nicht von der Assad-Regierung, sondern von den “moderaten Rebellen” selbst verübter Giftgas-Anschlag, zu einem Bombardement von Damaskus geführt hätte:

“Im August 2013 standen die Truppen der USA, Englands und Frankreichs kurz davor, mit Bombardements in den syrischen Konflikt einzugreifen, weil nach mehreren Giftgaseinsätzen, die der Assad-Regierung zugeschrieben wurden, laut Präsident Obama eine »rote Linie« überschritten war. Nachdem am 21. August in der Region Ghuta erneut mehrere hundert Zivilisten durch den Einsatz chemischer Waffen ums Leben gekommen waren, legte Präsident Obama den Termin des Bombenangriffs auf den 2. September fest, England verlegte ein U-Boot und Kampfflugzeuge nach Zypern, eine Staffel der französischen Luftwaffe wurde in Bereitschaft versetzt. Ohne Frage wäre es zu diesem Angriff auf Damaskus gekommen – der US-Präsident hatte ihn sogar schon öffentlich angekündigt. Dass er im letzten Moment abgewandt wurde, ist einem russischen Agenten zu verdanken, der dem britischen Geheimdienst MI6 ein Muster des in Ghuta verwendeten Giftgases zukommen ließ – samt eines vertrauenswürdigen Belegs, dass dieses nicht aus russischen Beständen stammte und daher auch nicht im Arsenal von Assad gewesen sein konnte. Nachdem die Chemiker des MI6 dies geprüft hatten, funkten sie eilig nach Washington: »Wir wurden reingelegt!«
Wie dies geschah, deckte Seymour Hersh in zwei investigativen Reportagen einige Monate später auf: Als eine klassische »False-Flag-Operation« hatten die »Rebellen« selbst das Giftgas eingesetzt. Die Kampfstoffe stammten aus der Türkei und waren auf der von der CIA eingerichteten »Rattenlinie« zur Versorgung der Aufständischen nach Syrien gebracht worden. Mit dem von der Türkei, Katar und Saudi-Arabien ausgeheckten Plot sollten die Großmächte in den Konflikt hineingezogen werden, was Russland verhinderte und danach einen Deal mit Assad aushandelte, sämtliche syrischen Chemiewaffen zu vernichten.”

Bröckers/Schreyer: Wir sind immer die Guten, 2019, S.57

Dass jetzt erneut solche “Rattenlinien” genutzt werden, um an offiziellen Stellen und Kanälen vorbei den Konflikt zu eskalieren, ist nicht auszuschließen. Larry Johnson, der damals auf Seiten der CIA und des Militärgeheimdiensts mit dabei war, schreibt:

“Ich halte die Situation in der Ukraine für weitaus gefährlicher als das, was in Syrien passiert ist. Russlands nationale Sicherheit steht auf dem Spiel, und der Westen gerät in Panik angesichts der Aussicht, dass die Ukraine zur Unterwerfung gezwungen werden könnte. Zumindest tut Russland das Richtige – es warnt die betroffenen Länder präventiv, dass es weiß, was geplant ist, und dass es geeignete Maßnahmen ergreifen wird, um einen solchen Angriff abzuwehren, falls er stattfindet. Wir sitzen auf einem nuklearen Pulverfass. Beten Sie, dass sich kühlere Köpfe durchsetzen.”

Dass US-Verteidigungsminister Austin letzte Woche erstmals seit Mai (und am Sonntag gleich noch einmal) mit seinem direkten Counterpart Sergej Shoigu telefoniert hat, scheint da ein gutes Zeichen. Die höchsten Verantwortlichen im Pentagon und im Kreml wissen, dass sie auf einem Pulverfass sitzen und haben kein Interesse daran, dass auf konspirativen Rattenlinien von Hasardeuren  daran gezündelt wird und werden das hoffentlich verhindern. Insofern sehe ich den nuklearen Hype aktuell eher gelassen – keine Seite kann die garantierte gegenseitige Vernichtung riskieren.

(wird fortgesetzt)

Alle bisher erschienen “Notizen” hier

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Soeben erschienen:
Mathias Bröckers : Vom Ende der unipolaren Welt , ‎ Fifty-Fifty (2022),  288 Seiten, 20 Euro

 

 

 

 



Der internationale Bestseller über die Geschichte und Hintergründe des Ukraine-Kriegs:

Mathias Bröckers/Paul Schreyer: Wir sind IMMER die Guten – Ansichten eines Putinverstehers oder wie der kalte Krieg neu entfacht wird, Westend Verlag (2019)

 

 

Materialermüdung

Es ist mal wieder Buchmesse, doch der Trend zum Zweitbuch, so die über Umsatzrückgänge klagenden Verlage, scheint zu stocken. Umso wichtiger, alle Lesefähigen auf lesenswerten Stoff aufmerksam zu machen. Hier deshalb mein Hinweis auf den besten Roman der Saison.

Als junger Student hatte ich mir 1974 aus der Scheune eines Bauern für 300 Mark einen Mercedes 180 D gekauft und mit Hilfe von Freunden fahrbereit gemacht. Der Wagen war  20 Jahre alt, hatte 160.000 Kilometer auf dem Buckel und noch ein paar Monate TÜV. Aber mit dem Stoffschiebedach und den vier Lautsprechern, die wir eingebaut hatten –  Casettenrecorder im Handschuhfach –  ein Traumauto. Bevor ich damit dann das erste Mal auf große Fahrt nach Berlin inklusive Transit durch die DDR ging und es keine erfreuliche Aussicht war, bei einer Panne im Osten von einem anderen Transitreisenden zwangsabgeschleppt zu werden, redete ich dem Auto bei der Abfahrt gut zu und tätschelte das Armaturenbrett. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihm dann auch einen Liter frisches Öl oder eine andere Belohnung für brave Dienste versprochen habe, aber mit dem Auto zu reden wie zu einem treuen Hund wurde zu einer Gewohnheit.
Nicht nur auf den über 50.000 Kilometern, die ich mit dem 180er noch absolvierte, sondern auch bei seinem Nachfolger mit „Heckflosse“ – und auch noch bei einigen anderen Geräten. Zum Beispiel dem ersten Nadeldrucker, der Mitte der 80er ins Haus kam, brav ratterte wie ein Diesel und ganze Bücher ausdruckte – aber nur, wenn ich daneben sitzen blieb. Schnell mal in die Küche einen Kaffee trinken, um dem Sägewerk-Sound zu entkommen, war eine Garantie für „Error“ und Papierstau. Die Anwesenheit im Zimmer aber genügte, ohne weiteres Zutun spulte der Drucker Seite um Seite ab.
Als ich dann einige Jahre später über diese Kontakte und „Gespräche“ mit sprachlosen Dingen, Geräten oder Zimmerpflanzen einen Artikel im „Zeit“-Magazin schrieb, kam ein ganzer Berg von Leserbriefen, die von ähnlichen Erfahrungen berichteten und überzeugt waren, dass bei aller Unerklärlichkeit irgendetwas dran sein muss an diesen mentalen Kontakten mit (scheinbar) unbelebter Materie. Und auch ich bilde mir immer noch ein, dass mein emphatischer Zuspruch die unvermeidlichen Materialermüdung des betagten 180ers zwar nicht verhinderte, aber doch hinauszögerte.
Diese Geschichten fielen mir jetzt wieder ein, als ich den Roman „Materialermüdung“ von Dietrich Brüggemann las, in dem es aber nicht um derartigen Neo-Animismus geht, sondern um Materialermüdung in einem sehr viel umfassenderen Sinne. Dergestalt dass sich am Ende sogar die ganze Materie auflöst und der Berliner Fernsehturm zusammenstürzt.
Vorher aber geschieht so Einiges: „Als Jacob und Maya von Jacobs Vater aus seinem Garten herausgeworfen werden, ahnen sie noch nicht, dass dies der Anfang vom Ende ist – vom Ende ihrer Beziehung, aber auch vom Ende der Welt. Gemeinsam mit ihrem Freund Moses navigieren sie einen Herbst lang durch die Untiefen eines Lebens zwischen Kulturszene, Social Media, künstlicher Intelligenz und postmoderner Ellbogengesellschaft. Doch spätestens, als Moses sich auf Twitter anmeldet, um dort seine verschollene Schwester zu suchen, wird deutlich, dass das Leben der drei Freunde sich mehr verändern wird, als sie es ahnen. Denn die geplante Obsoleszenz, aufgrund derer heute jedes Gerät nach vier Jahren den Geist aufgibt, hat schleichend die ganze Welt befallen, und eine große Materialermüdung breitet sich aus.“

Soweit der Klappentext, der mich neugierig machte. In den Leserbriefen damals hatten auch einige von der Erfahrung berichtet, dass Geräte in ihrem Haushalt oft in Serie kaputt gehen, als ob sie sich untereinander „absprechen“. Aber auch darum geht es hier nicht, obwohl gegen Ende hin so einiges kaputt geht, weil der unsympathische Vater, der einen verschwörungstheoretischen „Sokrates“- Report herausgibt, letztlich Recht behält: ein Experiment im Teilchenbeschleuniger CERN sorgt dafür, dass die Materie zerfällt. Langsam aber sicher, genauso wie das Material und der Zusammenhalt des Theaterkollektivs und seinem Projekt zum Thema Obsolenz oder die Fake-Identität von Moses. Der verdankt seine Existenz einem One-Night-Stand der Mutter mit einem Türken, seinen Vornamen ihrem philosemitischen Holocaust-Tick und den Nachnamen Goldberg seinem biodeutschen Vater aus Gießen, der schwer krebskrank und nicht mehr sicher ist, ob die Töchter Rachel und Hannah wirklich von ihm stammen. Nicht nur die Materie, auch der Stoff, der Beziehungen, Familien, Liebe und Träume zusammenhält, ermüdet und zerfällt in diesem Roman, der trotz all dem was da in die Binsen geht, so gar nicht depressiv und apokalyptisch stimmt. Auch wenn mehr Katastrophe als in „Materialermüdung“ kaum geht. Selten wurde der Weltuntergang so leichtfüßig und witzig erzählt, wie in diesem Road-Movie aus der hippen Berliner Kulturszene, deren „woke“ und „diverse“ Bubble sich als genauso beknackt und zunehmend dysfunktional erweist wie die sie umgebenden Geräte.
Ich gratulierte dem Autor per email zu seinem tollen Roman, nachdem ich auf den ersten 100 Seiten schon mehrfach laut lachen musste und unbedingt weiterlesen wollte – was mir bei zeitgenössischer Prosa, die ich als Literatur-Redakteur über viele Jahre regelmäßig las, äußerst selten passierte. Das meiste, was in Wettbewerben und Verlagsprogrammen an Debüts auftauchte, wanderte in die Ablage „kalter Kafka“ und nachdem ich es mir mit Günter Grass verscherzt hatte, weil ich seinen Roman „Die Rättin“ als „gescheiterten Tierversuch“ kritisiert hatte, gab ich das Rezensionshandwerk auf. Wenn nicht mal gestandene Nobelpreisträger Kritik aushalten, darf man Jungliteraten und Debütantinnen doch kein Leid antun und ihre Texte in die Tonne treten, sondern kann nur schweigen – oder loben.
Als ich weitere 100 Seiten gelesen hatte war klar, dass hier der seltene Fall eines Debutromans vorliegt, der nicht beschwiegen werden, sondern nur und in hohen Tönen gelobt werden muss. Nicht nur weil ich immer wieder lachen musste und Dietrich Brüggemann einfach gut schreiben kann, sondern weil dem Autor – von Hause aus Filmmacher und Musiker – hier eine sehr vielschichtige Kombination und Komposition gelungen ist: ein Katastrophenfilm, in einer Liebes und Beziehungsgeschichte, in einer Satire auf todernste Wokeness-Lappalien , in einer Kritik der Frankenstein-Gefahren unkontrollierter Wissenschaft und der Ununterscheidbarkeit  von Faktencheckern und Verschwörungstheoretikern,  in einem  „Sittenbild“ (hätte man ganz früher gesagt)  der Berliner Generation Y  in der Post-Postmoderne. Mit einem „Wow!“ und dem Ziehen meines nicht vorhandene Hutes klappte ich das Buch nach 490 Seiten zu.
Aber ich hatte etwas vergessen, die „Süddeutsche“ (26.9.22) klärte auf:
Zu alldem muss man dann wissen, dass der Autor Brüggemann 2021 maßgeblich hinter der Aktion #allesdichtmachen stand. Schauspieler, Regisseure und andere Künstler kritisierten damals in kleinen Videos die Corona-Schutzmaßnahmen, indem sie ironisch noch härtere Einschränkungen forderten.“
Muss man zur „Blechtrommel“ wissen, dass Grass für die SPD getrommelt hat, oder zum „Prozess“, dass Kafka Versicherungsangestellter war?
Der Autor ist natürlich nicht mit seinen Figuren zu verwechseln, aber wegen dieser Vorgeschichte schwebt über dem Roman nun trotzdem der ständige Verdacht, dass hier im Plauderton eines hippen Berliner Gesellschaftskritikromans (…) Schwurbeltheorien verbreitet werden sollen.“

Auf den Verdacht, dass im  „Prozess“ Versicherungspolicen verbreitet werden sollen und in der „Blechtrommel“  Sozialismus, bin ich nie gekommen, aber bei der „Vorgeschichte“ der Autoren und auch wenn man sie nicht mit ihren Figuren verwechseln sollte, ist ein „Verdacht“ natürlich nicht auszuschließen.
Was „Schwurbeltheorien“ betrifft finden sich in diesem Roman allerdings schon deshalb keine, weil er vor der Pandemie spielt, in der dieser Begriff zwecks Säuberung des Meinungskorridors erst erfunden wurde. Auch der fiktive „Sokrates“-Report und die fatalen Materieexperimente im CERN Teilchenbeschleuniger, die zentral für den Plot sind, spielen nur im Hintergrund eine Rolle. Was den Rezensenten stört, ist nicht, was die Figuren sagen oder tun, sondern die Haltung des Autors, weshalb er in die Geschichte eine „Ideologieebene“ hinein liest und in der Überschrift bekundet: „Nehmt euch in acht vor der Wissenschaft!“ 
Nun gut – so kann man auch „Faust“ oder „Frankenstein“ als ideologisch fragwürdig verdächtigen und Goethe oder Mary Shelley in die „Querdenker“-Schublade verbannen. Hat vor 200 Jahren kein Rezensent getan, aber es wäre an der Zeit, hier mal genauer zu schauen. Ob Skepsis, Zweifel, Kritik an „der Wissenschaft“ noch erlaubt sein können,   wo diese doch gerade die Wahrheit – und nichts als die Wahrheit –  über die Killereigenschaften des Virus und die Effizienz der Impfung herausgefunden hat?  Sind die Experimente eines Dr. Faust oder Dr. Frankenstein einer sensitiven, post-pandemischen Lektüre noch zumutbar? Und wenn ja, kommt es auf diese Figuren und ihre Geschichten an, oder auf die Haltung des Autors, der sie erzählt ? Ich denke, wir sollten uns besser vor einer solchen Literaturkritik in Acht nehmen, als vor „der Wissenschaft“.  Und was das „Schwurbeln“ und die Theorien betrifft, dass die letzten Geheimnisse des Universums und der Materie tatsächlich in den Teilchenbeschleunigern des CERN gelüftet werden: Gerade wird von dort gemeldet, dass die Fortsetzung der Experimente gefährdet ist. Nicht wegen der vielfältigen Zweifel an ihrem Sinn, und auch nicht wegen drohender Materialermüdung, sondern wegen der Energiekosten. Nehmt euch in acht vor der Sanktionspolitik!

Dietrich Brüggemann: Materialermüdung, Edition W, , Frankfurt  2022, 490 Seiten, 25 Euro

Notizen vom Ende der unipolaren Welt – 56

So gelassen, wie die Bundesregierung mit Terroranschlägen auf deutsche Infrastruktur umgeht, hat es den Anschein, dass man wie einst einst Merkel gegen das “Abhören” nunmehr auch gegen das “Pipelinesprengen unter Freunden” einfach nichts machen kann. Und nicht einmal sagen darf, ob und wie man gedenkt, den Anschlag zu ermitteln und den Tätern auf die Spur zu kommen. Man sei, so erfuhr Sahra Wagenknecht auf eine kleine Anfrage, „nach sorgfältiger Abwägung zu dem Schluss gekommen, dass weitere Auskünfte aus Gründen des Staatswohls nicht – auch nicht in eingestufter Form – erteilt werden können.“

Schön mal wieder von ihm  hören, dem guten alten “Staatswohl”, dem es gesundheitlich  ja ziemlich gut zu gehen scheint, wenn es den Verlust wichtiger Versorgungsadern so locker hinnehmen kann. Und es seiner Gesundheit sogar für zuträglich hält, sich um mögliche Ursachen keinen Gedanken zu machen oder Auskünfte zu geben. Staaten, denen von Terroristen wichtige Versorgungseinrichtungen zerstört werden, würden normalerweise Zeter und Mordio schreien und alle Fahndungsregister ziehen, um die Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen. Und ihre Bürger, für deren Sicherheit und Infrastruktur der Staat verantwortlich ist,  regelmäßig auf dem Laufenden halten – über den Stand der Ermittlungen und der Planungen, solche Terrorattacken künftig zu verhindern:  Task-Force, Sonderstäbe, Untersuchungsausschüsse, das ganze Programm. Wie so etwas aussieht, wenn ein Staat alles in  Bewegung setzt, um einen Terroranschlag aufzuklären, kann man an den an detaillierten Erkenntnissen sehen, die russische Ermittler innerhalb kurzer Zeit über den Tathergang und die Täter der Attacke auf die Krim-Brücke  gewonnen und veröffentlicht haben .  Auch wenn sich noch nicht beurteilen lässt, wie “gerichtsfest” die vorgelegten Beweise sind, gewinnt man zweifellos den Eindruck: so geht Anti-Terror-Ermittlung und Polizeiarbeit. Während hierzulande unter Berufung auf die  „Third-Party-Rule“ für die internationale Zusammenarbeit der Geheimdienste entspanntes Nichtstun und verordnetes Aussitzen herrscht. Und nicht einmal Abgeordnete und die parlamentarische Geheimdienstkontrolle erfahren dürfen, ob und wie die Regierung den Anschlag aufzuklären gedenkt.

Die Schweden waren als direkte Anrainer zuerst am Tatort, wollen aber “unter Freunden” nicht verraten, was ihre Taucher dort möglicherweise ans Spuren gefunden haben. Dass es der Ausweis eines russischen Matrosen war, ist immerhin ausgeschlossen, denn das wäre sofort gemeldet worden. Die deutsche Bundespolizei ist nach knapp zwei Wochen dann auch mal gemütlich zur Besichtigung des Tatorts aufgebrochen, was dann immerhin eine Eilmeldung der “Tagessschau” wert war – allerdings nur, weil man  keine passende Tauchausrüstung dabei hatte und unverrichteter Dinge wieder abzog. Auch Profis können ja mal vergessen, dass die Ostsee 70 Meter tief ist und wenn sie es für das “Staatswohl” tun, um so besser…

Es fragt sich allerdings,  um welchen Staat und sein Wohl und Wehe es hier eigentlich geht. Nehmen wir mal an, die amerikanischen “Freunde”, denen deutsche Energieversorgung aus Russland seit über 50 Jahren ein Dorn im Auge ist – siehe dazu “Der unverziehene Strang nach Osten” (Spiegel, 12/1982)  – haben ihre  britischen, polnischen und skandinavischen Vasallen angespitzt, die Nordstream-Pipelines zu sprengen. Die deutschen Dienste lässt man bei dieser Operation außen vor, erinnert sie dann aber an ihr Schweigegebot und lässt sie auch nicht selbst ermitteln. Weshalb mit der Berufung der Bundesregierung auf das “Staatswohl” auch nicht der deutschen Staat gemeint  sein kann, sondern nur das Wohl der “Third Parties”, der “Freunde” in den USA und ihre Vasallen. Dass die Attacken auf die Nordstream-Pipeline, ähnlich wie 2014 die auf den Flug MH-17 über der Ukraine (oder wie 9/11), nicht wirklich ermittelt und aufgeklärt werden, sondern “auf dem weiten Feld der Spekulationen, Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien versumpfen” , hatte ich hier  (Notizen *52)  schon angemerkt. Genau so scheint es zu laufen. Und es sollte sich niemand wundern, wenn in ein paar Wochen dann “Bellingcat” oder andere “Faktenchecker” in Propagandadiensten mit einer Super-Recherche die Unterwasser-Smoking-Gun aufdecken, die dann doch auf Täter  aus dem “Umfeld Putins” verweist…

Unterdessen beklagt die US-Journalistin Ann Applebaum, Gattin des polnischen Ex-Ministers, der sich für den Nordstream-Anschlag mit “Thank You, USA” bedankte, dass man aus Deutschland keine Panzer an Kiew liefert, weil man sich einen Sieg der Ukraine einfach nicht vorstellen will: “Wie wird es Europa verändern, wie wird es Russland verändern, wie wird es das Gleichgewicht der Kräfte verändern? Ich glaube, dass die Situation mit den Panzern genau damit zusammenhängt.” Sie glaubt bei ihrem Talk im “Progressiven Zentrum” auch noch ganz viel anderes, hat aber entweder keinen Schimmer, dass nach aktuell 5876 zerstörten Panzern der ukrainischen Armee ein paar hundert mehr keine Rolle mehr spielen, oder will für ihre Auftraggeber im Militärisch-Industruellen-Komplex einfach nur diese wunderbare Abwrackprämie beibehalten, für die auf ukrainischer Steppe derzeit von den Russen gesorgt wird. Dass es nach der General-Strategie des Pentagon – “unterbreche niemals den Geldfluß!” – aber noch ein ganze Weile so weiterergeht, ist nicht zu erwarten, denn nicht den Russen, sondern dem Westen gehen die Waffen aus. 
Da kann auch die kriegslüsternste Propaganda aus “Progressiven Zentren” nicht helfen, in denen die neokonservative Rechte und  die woke Linke Hand in Hand in den “Woke War III” marschieren. Erstere sind was den Bellizismus betrifft in Wort und Schrift zwar stets ganz vorne mit dabei, haben aber wenn es um realen Krieg geht bisher jeden verloren, den sie angezettelt haben; letzere sind was Krieg betrifft theoretisch und praktisch völlig ahnunglos, wollen aber vom Kindertisch aus “in dienender Führungsrolle” (R.Habeck) vorne mit dabei sein, beim “Sieg in der Ukraine”. Den wird es indessen nicht geben und spätestens wenn General Winter das Regiment übernimmt wird das auch diese Neocon-Grüne-Querfront merken und hoffentlich vom Hof gejagt. Ihrem semi-debilen Führer Joe Biden blüht das schon bei den Halbzeit-Wahlen Anfang November….

Alle bisher erschienen “Notizen” hier

Am 20. Oktober 2002 erscheint:
Mathias Bröckers : Vom Ende der unipolaren Welt , ‎ Fifty-Fifty (2022),  288 Seiten, 20 Euro

 

 

 

 



Das Buch über die Geschichte und Hintergründe des Ukraine-Kriegs:

Mathias Bröckers/Paul Schreyer: Wir sind IMMER die Guten – Ansichten eines Putinverstehers oder wie der kalte Krieg neu entfacht wird, Westend Verlag (2019)

 

 

 

 

 

 

 

 

Notizen vom Ende der unipolaren Welt – 55

Auch wenn das Regime in Kiew nichts Besseres zu tun hatte, als den Terroranschlag auf die Krim-Brücke mit einer Briefmarke feiern zu lassen, gehen wir nicht davon aus, dass die russische Post jetzt mit einer Serie zerstörter Gebäude in Kiew kontert, zumal nach den massiven Raketenangriffen auf zahlreiche Einrichtungen der Energieversorgung und Infrastruktur überall im Land dafür schon ein Sammelalbum notwendig wäre.
Außerdem wissen die Russen, dass Kriege nicht mit Propaganda und Lügen gewonnen werden, sondern “on the ground”. Angriffe auf ukrainische “Kontrollzentren” hatte Putin schon seit Monaten mehrfach angedroht, wenn die Attacken auf die Donbass-Region nicht gestoppt werden. Überrascht sein konnten davon jetzt nur “Informationskrieger”, die ihrer eigenen Propaganda auf den Leim gegangen sind und glauben, dass Russland “die Raketen ausgehen” und “Putins Niederlage” kurz bevorsteht.
Stattdessen scheint jetzt eher das Gegenteil der Fall, wenn die von überall gemeldeten Stromausfälle sich fortsetzen, könnte bald die ganze Ukraine still stehen, weil mit dem Stromnetz auch Bahn, Kommunikation, Wasserpumpen etc.pp. ausfallen. Bisher hatte Russland bei seiner “Speziellen Militäroperation” kaum Infrastruktur angegriffen, aber damit ist es seit dem Montagmorgen vorbei.

Bei meinen Prognosen vom Beginn der Invasion, dass sie wegen der Überlegenheit der russischen Streitkräfte nur wenige Monate dauern wird, war ich davon ausgegangen, dass von Anfang an mit derartigem “Shock &Awe”-Raketenhagel im amerikanischen Stil vorgegangen wird. Eine langsame, “schonende” SMO, wie sie Russland dann durchführte, konnte ich mir nicht vorstellen, aber die Absicht – so wenig Zerstörung wie möglich, so viel Druck auf den Gegner wie nötig, und die Tür für Verhandlungen immer offen halten – wurde dann klar. Wie auch die Tatsache, dass Verhandlungen nicht von Zelensky selbst, sondern von seinen westlichen Geldgebern und Ausrüstern verhindert wurden. Noch im April und Mai wäre es möglich gewesen, die Ukraine in ihren seit 1991 existierenden Grenzen zu erhalten, abzüglich der Krim und inklusive von vier Regionen mit einem Autonomiestatus a lá “Minsk 2”. Weil aber der Krim-Hafen Sebastopol und Kontrolle über das Schwarze Meer in Washington und London auf der To-Do-Liste stehen, war solch ein Friedensschluss unmöglich.
Seine euro-atlantischen Bosse machten dem Ex-Komiker deshalb Geld- und Waffen-Angebote, die er nicht ablehnen konnte. Und jetzt ausbaden muss, weil der eurasische Boss die Faxen dicke hat und ihm mächtig aufs Dach gibt. während seine NATOstan-Kumpels, außer schwerer Empörung und heftiger Anfeuerung bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen, nichts zu bieten haben. Apropos: Was macht eigentlich die sagenhafte US-Luftabwehr wenn man sie mal braucht?
Mit den Attacken auf strategische Energieknotenpunkte und Infrastruktur beginnt die dritte Phase der russischen “Militäroperation”. Die nicht nur ein neues Gesicht hat – “Shock`n Awe” – sondern auch einen humorlosen Geschäftsführer, vor dem nicht nur Ex-Komiker besser in Deckung gehen sollten, wie Pepe Escobar empfiehlt:

Das Gesicht von Russlands Shock’n Awe ist der neue russische Befehlshaber der Luft- und Raumfahrtstreitkräfte, Armeegeneral Sergej Surowikin: der neue Oberbefehlshaber der nun völlig zentralisierten SMO….Surowikin ist weithin geachtet – und gefürchtet: Sein Spitzname ist “General Armageddon”. Andere nennen ihn “Kannibale”. Surowikin ist seit 2017 Befehlshaber der russischen Luft- und Raumfahrtkräfte, wurde für seine unnachgiebige Führung der Militäroperation in Syrien mit dem Titel “Held Russlands” ausgezeichnet und hatte in den 1990er Jahren Erfahrung vor Ort in Tschetschenien. Surovikin ist nun der Dr. Shock’n Awe mit vollem Freibrief…
Der MI-6 hat, relativ gesehen, einige gut platzierte Maulwürfe in Moskau. Die Briten hatten den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenskij und den Generalstab gewarnt, dass die Russen am Montag einen “Warnschlag” durchführen würden. Was dann geschah, war kein “Warnschlag”, sondern eine massive Offensive mit über 100 Marschflugkörpern, die “aus der Luft, zu Wasser und zu Lande”, wie Putin bemerkte, gegen ukrainische “Energie-, militärische Kommando- und Kommunikationseinrichtungen” eingesetzt wurden.
Der MI6 erklärte außerdem, “der nächste Schritt” werde die vollständige Zerstörung der ukrainischen Energieinfrastruktur sein. Das ist kein “nächster Schritt”: Er findet bereits statt. In fünf Regionen, darunter Lwiw und Kharkow, ist die Stromversorgung vollständig ausgefallen, und in fünf weiteren, darunter Kiew, kommt es zu ernsthaften Unterbrechungen. Über 60 Prozent der ukrainischen Stromnetze sind bereits ausgefallen. Über 75 Prozent des Internetverkehrs sind unterbrochen. Elon Musks netzzentrierte Kriegsführung Starlink wurde vom Verteidigungsministerium “abgeschaltet”.

Shock’n Awe wird wahrscheinlich in drei Stufen ablaufen.
Erstens: Überlastung des ukrainischen Luftabwehrsystems (bereits im Gange).
Zweitens: Sturz der Ukraine in das finstere Mittelalter (bereits im Gange).
Drittens: Zerstörung aller wichtigen Militäreinrichtungen (die nächste Welle).

Die Ukraine steht kurz davor, in den nächsten Tagen in fast völlige Dunkelheit zu versinken. Politisch gesehen eröffnet sich damit ein völlig neues Spielfeld. In Anbetracht von Moskaus Markenzeichen, der “strategischen Zweideutigkeit”, könnte es sich um eine Art Neuauflage von Desert Storm handeln (massive Luftangriffe zur Vorbereitung einer Bodenoffensive); oder, was wahrscheinlicher ist, um einen “Anreiz”, die NATO zu Verhandlungen zu zwingen; oder einfach nur um eine unerbittliche, systematische Raketenoffensive, gemischt mit elektronischer Kriegsführung, um Kiews Fähigkeit, Krieg zu führen, endgültig zu zerstören. Oder es könnte alles zusammen sein.

Die entscheidende Frage ist, wie ein gedemütigtes westliches Imperium den Einsatz erhöhen kann, ohne gleich zum Atomkrieg überzugehen. Moskau hat zu lange eine bewundernswerte Zurückhaltung an den Tag gelegt. Niemand sollte vergessen, dass die Ukraine im eigentlichen Great Game – der Frage, wie das Entstehen einer multipolaren Welt koordiniert werden kann – nur ein Nebenschauplatz ist. Aber jetzt sollten die Nebendarsteller besser in Deckung gehen, denn “General Armageddon” ist auf dem Vormarsch.”

Pepe Escobar: Terror on Crimea Bridge forces Russia to unleash Shock’n Awe

Außer der Idee, “möglichst schnell” noch ein paar mehr Luftabwehr- Einheiten anzuliefern, sowie die Empörungsrhetorik weiter hochzufahren, ist dem kollektiven Westen noch nicht allzu viel eingefallen, wie sich das Narrativ vom Sieg “auf dem Schlachtfeld” (EU-Feldherr Borrell) noch halten lässt. Und wie man nach den hasserfüllten und aggressiven Tiraden gegen Russland jetzt wieder in kommunikative, diplomatische Gewässer zurückrudern kann. Wobei Ex-Präsident Medwedew am Montag auf Telegram seine “persönlichen Meinung” kundtat, dass zuvor “die vollständige Zerschlagung des politischen Regimes der Ukraine” ansteht, was bedeutet, dass Zelensky als Friedenspartner nicht mehr in Frage kommt. Sein Regime gilt  nach den Terrorattacken auf das AKW Saporischschja, Nordstream und die Krim-Brücke als nicht mehr verhandlungsfähig und rangiert in Moskau jetzt auf dem Niveau von ISIS und Al Qaida. Mit denen hatte General Surowikin schon in Syrien kurzen Prozess gemacht. Gestern früh, bevor die Hölle über Kiew losbrach,  wurde er mit dem Satz zitiert: “For the enemies of Russia, the morning does not start with coffee.”

Heute früh gilt dasselbe, überall im Land werden Energieknotenpunkte und strategische Einrichtungen getroffen. “Aber zum Glück sind Russland ja schon im  März die Raketen ausgegangen”, wird auf russischen Blogs gewitzelt, “die können nicht von uns sein!” Sind sie aber, und Dr. Shock`n Awe versteht keinen Spaß.  Vor 23 Jahren galt für die “Wertedemokratien” des Westens das Bombardement von Städten als Türöffner für den Frieden: “A massive bombig attack opens the door to peace”, titelte das “Time”-Magazin. Dass auch “General Armageddon” diese Tür knacken kann, ist ziemlich sicher. Aber es muss nicht 72 Tage dauern wie seinerzeit die NATO-Raketen auf  Jugoslawien. Deshalb muss JETZT geredet werden. Nicht empört und hysterisch, sondern ruhig und vernünftig – über Frieden.
(wird fortgesetzt)

Alle bisher erschienen “Notizen” hier
Das Buch über die Geschichte und Hintergründe des Ukraine-Kriegs:

Mathias Bröckers/Paul Schreyer: Wir sind IMMER die Guten – Ansichten eines Putinverstehers oder wie der kalte Krieg neu entfacht wird, Westend Verlag (2019)