Telepolis löscht über 50.000 alte Artikel und benennt diese digitale Zensur und Geschichtsklitterung “journalistische Qualitätsoffensive”. Die “literarische Qualitätsoffensive” der Bücherverbrennung lässt grüßen! Einige “Archivperlen” will Schriftleiter Harald Neuer frisiert wieder aufleben lassen, meine ca. 200 tp-Artikel seit 1996 werden aber wohl nicht dabei sein, schon gar nicht die “WTC Conspiracy”-Kolumnen , die aber zum Glück gedruckt vorliegen. Das gilt für die meisten der über 50.000 Artikel aber leider nicht, denn Online-Magazine werden nicht in der Nationalbibliothek hinterlegt, sondern sind ihr eigenes Archiv. Wenn der Heise-Verlag, der Telepolis betreibt, sie von seinen Servern löscht, sind sie aus der Geschichte verschwunden.
Wie nach der Bücherverbrennung können die Inhalte dann nur noch in Form privater Kopien überleben und Autoren können froh sein, noch eine gespeichert zu haben, ansonsten ist das Werk ein für allemal verloren. Nicht nur für sie, sondern auch für die Historiker der Zukunft, die die Bedeutung des Onlinejournalismus und seine Rolle beim Entstehen medialer Gegenöffentlichkeit erforschen – und die Inhalte eines der ersten und wichtigsten Magazine in Deutschland gar nicht mehr finden. Weil Telepolis sich 2021 ein “journalistisches Leitbild” verpasst hat, dem die Inhalte der ersten 25 Jahre dieses Magazins nicht mehr entsprechen. Zur Begründung für die massenhafte Löschung schreibt Neuber, man habe die Texte „zunächst aus dem Archiv genommen“, da man „für deren Qualität nicht pauschal garantieren“ könne.Wir mussten aber einsehen, dass es keine realistische Möglichkeit gibt, die enorme Menge von Artikeln aus gut 25 Jahren hinreichend zu prüfen.“
Dass 1933ff. eingestellte Schriftleiter jahrzehntealte Artikel aus den Archiven ihrer Zeitung entfernt hätten, weil sie nicht mehr dem neuen Leitbild der Schrifttumskammer entsprachen, ist mir nicht bekannt und auch eher unwahrscheinlich, weil sie nur für den aktuellen Inhalt ihres Blatts verantwortlich waren und nicht für die Säuberung der Vergangenheit. Warum und nach welchen Kriterien müssen historische Artikel überhaupt “hinreichend” überprüft werden ? – oder anders gefragt: wo kommen wir hin, wenn alle Zeitungen und Medienhäuser ihre Archive von allen Texten säubern, die sich als als falsch, tendenziös, unsachgemäß und unjournalistisch im klassischen Sinnen herausgestellt haben ? Welche Medienrealität werden die oben angesprochenen Historiker in einem derart durchgekärcherten Daten,-Nachrichten,-Meinungs-Korridor einst noch finden ? – jedenfalls nicht die, die in der Öffentlichkeit existiert hat.
Sondern nur die von `NewsGuard` – einem mit Millionen aus aus der PR,-und Werbebranche finanzierten Unternehmen, das die Glaubwürdigkeit von Medien untersucht und bewertet – als “vertrauenswürdig” eingestuften Medien. Mit voller 100% Punktzahl für das ehemalige Nachrichtenmagazin “Spiegel”, die FAZ und mit kleinen Abstrichen für die anderen Mainstreammedien, also genau jene, denen die PR,-und -Werbebranche weiter ihre unglaubwürdigen Produkte – Propaganda und Reklame – verkaufen will und ihnen eben deshalb des Image “glaubwürdig” verpassen muss. Von einem solchen Bewertungsportal “mit der vollen Punktzahl als “sehr glaubwürdig” eingestuft zu werden, wie TP-Leiter Neuber stolz verkündet, ist offensichtlich der Hintergrund für die Säuberungsaktion bei Telepolis.
Warum es nicht reicht, dem “News Guard” Reinheitsgebot zu genügen, indem man Beiträge aus dem Archiv als solche kennzeichnet – wie es bei Telepolis seit 2021 schon geschieht, mit dem überflüssigen Hinweis auf mögliche Inkompatibilität mit der neuen “Leitbild”-Ideologie – und gleich das gesamte Archiv geschlossen wird, ist unerklärlich. Dass der IT-Verlag Heise nicht genug Serverplatz zur Verfügung hat oder die Kosten für das Hosting eines Archivs mit 50.000 Textdateien zu hoch sind oder bergeweise Gerichtsklagen wegen alter Artikel eingegangen sind, kann eigentlich nicht sein. Auch dass in 25 Jahren Telepolis-Artikeln so häufig gegen neue Sprachregeln verstoßen wurde – weil etwa das “N-Wort” benutzt wurde und von “Pipi” statt korrekt von Urin Langstrumpf die Rede war – dass man gleich das ganze Archiv sperren muss, kann kein Grund sein.
Was Schopenhauer über die Archive sagt – “Wie die Schichten der Erde die lebenden Wesen vergangener Epochen reihenweise aufbewahren; so bewahren die Bretter der Bibliotheken reihenweise die vergangenen Irrtümer und deren Darlegungen.“ – gilt selbstverständlich auch für die Fake News von gestern, das tödliche Grippevirus von vorgestern und die Massenvernichtungswaffen vor zwanzig Jahren. Wer sich durch Ausradieren vergangener Irrtümer zu einem Organ der Wahrheit stilisiert, macht sich als journalistisches Medium lächerlich und nicht glaubwürdig.
Journalistische Qualität und Objektivität erreichen zu wollen und dabei und den fragwürdigen Kriterien einer Firma zu folgen, die von einem Ex-CIA und einem Ex-NATO-Chef “strategisch beraten” wird, ist nicht vetrauenswürdig, sondern peinlich. Indes ganz auf der Linie des gerade enttarnten pseudo-investigativen Journalisten-Netzwerks OCCCP, das von der US-Regierung finanziert und gesteuert wird und mit dem auch deutsche Medien eng zusammengearbeitet haben. An ihrer NewsGuard-zertifizierten Glaubwüridgkeit wird das nicht kratzen, so wenig wie die Millionenspenden von Bill Gates an “Spiegel” und andere Großmedien nicht an deren rundum “vertrauenswürdigen” Berichterstattung zur Pandemie kratzen konnten.
Von Medienprojekten, die als Tiger starten und als Bettvorleger enden kann ich als einstiger Mitgründer der “taz” ein trauriges Lied singen, doch selbst nachdem diese Zeitung zu einem olivgrünen NATO-Kampfblättchen verkommen ist und in Sachen Covid wie der “Wachturm” der “Zeugen Coronas” auftrat, käme dort niemand auf die irrsinnige Idee, das Archiv zu sperren, weil man nicht mehr für die “Qualität” historischer Artikel garantieren kann. Zumal wenn – wie bei der taz so bei Telepolis – das ganze Image, der Nimbus, die Marke, im Kern auf solchen nicht von NewsGuard-Praktikanten “zertifizierten” Inhalten und Sichtweisen beruht. Telepolis wurde nicht bedeutend und groß, weil man für die Berichte nur dpa-, und AP-Ticker verwurstete, sondern weil andere Quellen, Dokumente, Zeugen und Sichtweisen zu Wort kamen als bei diesen Agenturen.
Für die Hoffnungen, den mit dem Internet eintretenden Strukturwandel der Öffentlichkeit für einen freieren, erweiterten demokratischen Diskurs zu nutzen, war in Deutschland das Onlinemagazin Telepolis 1996 das erste publizistische Organ – gegründet von einem Philosophen (Florian Rötzer) in einem bis dahin in einem ausschließlich auf Technik spezialisierten Verlag (c`t Magazin), als Fusion von Digitalem und Technik mit Geist und Kultur, Wissenschaft und Kunst, ein journalistisches Pionierprojekt zu einer Zeit, als den Kollegen in den Printmedien “Netscape” und “Google noch unbekannt waren und Netzrecherche als unanständig galt.
Als meine am 13.9.2001 gestartete “WTC-Conspiracy” – Kolumne im Sommer 2002 im Buch erschien (“Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.”), hatte mich mein Verleger kurz vor Drucklegung noch um einen Vorspann gebeten, um zu erklären was eine “Suchmaschine” und “Links” sind. Die kleine web-pädagogische Handreichung „Zweimal täglich googeln“ gereichte mir dann aber eher zum Nachteil. Meine Quellen wurden von der Kritik durchweg als »unseriös«, weil »nur bei Google recherchiert« eingestuft, obwohl mehr als 90 Prozent der angegebenen Links auf bekannte »seriöse« Medien verwiesen. Dass das Internet ein Übermedium ist, in dem alle anderen Medien erreichbar sind, hatte der »Holzjournalismus« 2001 noch nicht verstanden und verkaufte das Netz als Drohkulisse für die garantierte Unseriosität gefährlicher Informationen. Das funktioniert heute wo alle im Netz sind nicht mehr, weshalb jetzt NewsGuard & Co. aussortieren, klassifizieren und zertifizieren und dem Publikum für betreutes Lesen zur Verfügung stellen.
Willkommen in Brainwashington D.C. . Und bei einer meiner in den Telepolis-Giftschrank verbannten “unqualifizierten” Bemerkungen. Weil diese hundertausendfach gedruckt und übersetzt bis nach Indonesien vorliegen, kann ich über diese digitalen Bücherverbrennung zwar nur als halb betroffener Hund aber dafür umso lauter bellen: Hallo Heise/Telepolis: Was soll der Scheiß? Wollt ihr wirklich alles über “Daten – Aufzucht und Pflege” (Wau Holland), die Grundregeln der Online-Kultur, der Hacker-Ethik und des freien Informationsaustauschs restlos vergessen? Okay, dann trennt euch von der Telepolis-Vergangenheit, in der dieser Geist wehte, vertraut der journalistischen Desinfektion durch die NewsGuard-Impfung und benennt euch in “Tewokelis” oder wie auch immer um. Doch Spaß beiseite: das Archiv zu sperren, zu manipulieren und gar zu eliminieren, ist ein Verbrechen! Auch wenn es einen Strafgerichtshof für Übergriffe auf das digitale Weltkulturerbe noch nicht gibt. Was es aber sicher gibt, sind Institutionen – Wau Holland-Stiftung, Digitalcourage, EFF u.a. – die das digitale Archiv von 25 Jahren Telepolis-Magazin unangetastet bewahren und offen halten würden. Ihnen dieses unerwünschte historische Erbe zu überlassen gebietet nicht nur die zeit, – und medien-geschichtliche Verantwortung, sondern schlicht der Anstand. In diesem Sinne: Die Wiederauferstehung von “Telepolis 1.0” ist überfällig!
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Erschienen am 10. Juni 2024
Mathias Bröckers: Inspiration – Konspiration – Evolution. Gesammelte Berichte aus dem Überall, Fifty-Fifty (Juni 2024), 464 Seiten, 30 Euro