Heute vor genau 60 Jahren – um 12:30 Uhr Ortszeit Dallas/Texas – wurde auf den 35. Präsidenten der USA geschossen. Gegen 13 Uhr wurde John Fitzgerald Kennedy für tot erklärt. Warum musste er sterben? – auf Overton ist dazu heute ein Auszug aus meinem Buch erschienen
Folgend ein Auszug aus »JFK – Staatsstreich in Amerika«. Passend hierzu verweisen wir nochmals auf das Interview mit Mathias Bröckers.
Im Frühjahr 1963 hatte John F. Kennedy in den Augen seiner zunehmend erbitterten Gegner in der CIA, im Pentagon und in der exilkubanischen Gemeinde ein beeindruckendes Sündenregister angesammelt. Er hatte zugelassen, dass die Schweinebucht-Invasion im Debakel endete. Er hatte die Kubakrise hinter dem Rücken seiner Militärs und Nachrichtendienste durch einen geheimen Notenwechsel mit Chruschtschow gelöst. Er hatte ähnlich diskret begonnen, mit Fidel Castro, dem revolutionären Feind vor der eigenen Küste, zu einer Verständigung zu kommen, und so die Rückeroberungspläne der militanten Kommunistenjäger und der rechtsgerichteten Exilkubaner in seinem Land endgültig sabotiert.
Er hatte einige der säbelrasselnden Vertreter im Generalstab durch moderatere Generäle ersetzt, die Hauptverantwortlichen für das Schweinebucht-Abenteuer – Allen Dulles und Richard Bisell – entlassen, die Durchführung verdeckter Operationen unter stärkere Kontrollen gestellt, eine Kürzung des CIA-Budgets verfügt und den Top-Agenten William Harvey abberufen, der auch nach dem Stopp der Operation Mongoose unbeirrt weiter militante Aktionen gegen Kuba durchführen ließ. Er hatte zudem die rassistischen Weißen in den Südstaaten gegen sich aufgebracht, als er mit Hilfe der Nationalgarde die Einschreibung von James Meredith, des ersten schwarzen Studenten, an der Universität Mississippi durchsetzte und den rechtsradikalen General Edwin Walker, der die Proteste dagegen anführte, in Haft nehmen ließ.
Abzug aus Vietnam
Und auch in einer ganz anderen Weltgegend, in Südostasien, hatte sich Kennedy für seine Gegner als Schwächling und Kommunistenfreund erwiesen. Er hatte mit Chruschtschow eine Vereinbarung über die Neutralität von Laos getroffen sowie den ständigen Forderungen der CIA und der Militärs widerstanden, Kampftruppen nach Vietnam zu schicken. Stattdessen hatte er die dortigen amerikanischen Aktivitäten auf die Anwesenheit von Militärberatern beschränkt und seinen Generälen – zu deren Entsetzen – aufgetragen, einen langfristigen Plan für den kompletten Rückzug aus Vietnam vorzulegen. Als Verteidigungsminister McNamara dies Paul Harkins, dem kommandierenden General des Militärberatungskommandos, bei einem Treffen in Saigon im Mai 1962 mitteilte, fiel dem – so beschreibt McNamaras Berater George Allen die Szene – »das Kinn fast auf die Tischplatte«.
Kennedys Entscheidung zum Abzug aus Vietnam ist später von zahlreichen Historikern ignoriert oder sogar in Frage gestellt worden, die die Eskalation des Kriegs durch seinen Nachfolger Lyndon B. Johnson als konsequente Fortsetzung der von JFK begonnen Politik beschrieben haben. Erst seit Mitte der 90er Jahre, durch die vom ARRB publizierten Dokumente und die Veröffentlichung der Kennedy-Tapes, wurde Klarheit darüber geschaffen, dass Kennedys Abzugspläne eindeutig und definitiv waren.
Das in etwa war die Situation, in der sich John F. Kennedy befand, als er am 10. Juni 1963 vor der American University in Washington seine aufsehenerregendste und neben der zwei Wochen später gehaltenen »Ich bin ein Berliner«-Ansprache vor dem Schöneberger Rathaus bekannteste Rede hielt. Wir wollen daraus im Folgenden ausführlich zitieren, weil hier der Wandel des Präsidenten vom realpolitischen Rhetoriker der Konfrontationslogik zum Visionär der Menschlichkeit und des globalen Friedens überaus deutlich wird. Was Kennedy unter dem strahlend blauen Himmel dieses Tags verkündete und forderte, war nichts anderes als eine völlige Transformation zur Zivilisierung, ein Ende des Kalten Krieges:
»Ich habe diesen Zeitpunkt und diesen Ort gewählt, um ein Thema zu erörtern, über das zu oft Unwissenheit herrscht und bei dem die Wahrheit zu selten gesehen wird – und doch ist es eines der wichtigsten Themen auf Erden: der Weltfrieden.
Welche Art von Frieden meine ich? Nach welcher Art von Frieden streben wir? Nicht nach einer Pax Americana, die der Welt durch amerikanische Kriegswaffen aufgezwungen wird. Nicht nach dem Frieden des Grabes oder der Sicherheit des Sklaven. Ich spreche hier von dem echten Frieden – jenem Frieden, der das Leben auf Erden lebenswert macht, jenem Frieden, der Menschen und Nationen befähigt, zu wachsen und zu hoffen und ein besseres Leben für ihre Kinder aufzubauen, nicht nur ein Friede für Amerikaner, sondern ein Friede für alle Menschen. Nicht nur Frieden in unserer Generation, sondern Frieden für alle Zeiten.«
Er sprach vom Frieden
Schon in seinen einleitenden Worten machte Kennedy klar, dass es ihm hier um etwas anderes ging als um die üblichen Friedensbekundungen, die Politiker permanent von sich geben, um nicht als Unmenschen dazustehen. Es ging ihm um etwas Großes, Globales, Ganzes – um einen Frieden nicht nur vor der eigenen Haustür, sondern für die gesamte Welt.
»Ich spreche vom Frieden, weil der Krieg ein neues Gesicht bekommen hat. Ein totaler Krieg ist sinnlos in einem Zeitalter, in dem Großmächte umfassende und verhältnismäßig unverwundbare Atomstreitkräfte unterhalten können und sich weigern zu kapitulieren, ohne vorher auf diese Streitkräfte zurückgegriffen zu haben. Er ist sinnlos in einem Zeitalter, in dem eine einzige Atomwaffe fast das Zehnfache an Sprengkraft aller Bomben aufweist, die von den gesamten alliierten Luftstreitkräften während des Zweiten Weltkrieges abgeworfen wurden. Und er ist sinnlos in einem Zeitalter, in dem die bei einem Atomkrieg freigesetzten tödlichen Giftstoffe von Wind und Wasser, Boden und Saaten bis in die entferntesten Winkel des Erdballs getragen und sich selbst auf die noch ungeborenen Generationen auswirken würden.«
Damit brachte er auf den Punkt, was sich nach der Atomeuphorie der 50er Jahre, als für den Notfall eines Nuklearangriffs die Aktentasche über dem Kopf und das Ducken unter den Schreibtisch empfohlen wurde (»duck and cover«), so langsam herumsprach: die nicht nur kurzfristige, sondern langfristige und großflächige Zerstörung organischen Lebens, die Atomwaffen mit sich bringen, und die Notwendigkeit, eine solche lebensfeindliche Katastrophe zu verhindern.
»Es ist heute, wenn der Friede gewahrt werden soll, unerlässlich, jedes Jahr Milliarden von Dollar für Waffen auszuwerfen, die lediglich zu dem Zweck geschaffen werden, sicherzustellen, dass wir sie niemals einzusetzen brauchen. Aber zweifellos ist die Anlage solcher unnützer Arsenale, die nur der Vernichtung und niemals dem Aufbau dienen können, nicht der einzige, geschweige denn der wirksamste Weg zur Gewährleistung des Friedens.«
Absage an das Wettrüsten
Eine deutliche Absage an die Haltung, dass das Wettrüsten alternativlos ist und ein Gleichgewicht des Schreckens und der Aggression der einzig mögliche Weg, den Frieden zu bewahren. Der einstige kalte Krieger John F. Kennedy, der in seiner politischen Karriere durchaus und nicht selten für eine Aufrüstung des Waffenarsenals plädiert hat, machte klar, dass er sich von dieser Haltung verabschiedet hatte.
»Ich spreche daher vom Frieden als dem zwangsläufig vernünftigen Ziel vernünftiger Menschen. Ich bin mir bewusst, dass das Streben nach Frieden nicht so dramatisch ist wie das Streben nach Krieg – und oft treffen die Worte desjenigen, der nach Frieden strebt, auf taube Ohren. Und doch gibt es keine dringlichere Aufgabe für uns. Manche sagen, es sei zwecklos, von Weltfrieden, internationalem Recht oder internationaler Abrüstung zu sprechen – und alles sei nutzlos, solange die Führer der Sowjetunion keine aufgeschlossenere Haltung einnehmen. Ich hoffe, sie werden dies tun. Ich glaube, wir können ihnen dabei helfen. Aber ich glaube auch, dass wir unsere eigene Haltung überprüfen müssen – als Einzelperson und als Nation –, denn unsere Einstellung ist genauso wichtig wie die ihre.«
Der Historiker Arthur Schlesinger beschrieb diese letzte Bemerkung später als einen »geeigneten Satz, die gesamte amerikanischen Sicht des Kalten Kriegs zu revolutionieren«. In der Tat wurde hier kein dumpfes Feindbild mehr propagiert, sondern der Projektionscharakter solchen Schwarz-Weiß-Denkens deutlich gemacht, das nur überwunden werden kann durch den Blick auf die eigene Haltung, durch kollektive und individuelle Selbsterkenntnis.
[…]
Es ist dies, da sind sich nahezu alle Historiker einig, eine der radikalsten Reden, die ein amerikanischer Präsident jemals gehalten hat. In fast schon poetischem Ton markiert sie Kennedys radikale Abkehr von der bestehenden Politik der Konfrontation und des Krieges und die Hinwendung zu einem neuen Zeitalter der Kooperation und des Friedens. Sie lässt die Stigmatisierung und Dämonisierung des »Bösen« und damit die typische Rhetorik des Kalten Kriegs weit hinter sich und schwingt sich zu einer empathischen Humanisierung des vermeintlichen Feindes, des russischen Volkes auf. Sie beschwört das Gemeinsame und Versöhnende, statt mit der Betonung von Angst und Schrecken die Spaltung voranzutreiben, und sie appelliert in psychologischer Tiefe an beide Seiten, ihre innere Haltung und Eigenwahrnehmung einem Prozess der Selbsterforschung zu unterziehen.
Ihm war es ernst
Animiert zu dieser radikalen und bahnbrechenden Rede wurde Kennedy von dem bekannten amerikanischen Journalisten und Friedensaktivisten Norman Cousins, der zwei Monate zuvor von einer Reise aus Rom und Moskau zurückgekehrt war, wo er mit Papst Johannes XXIII. und mit Chruschtschow Gespräche geführt hatte. Von Kennedy überbrachte er dem Sowjetführer dabei die Botschaft, »dass kein Mann in der amerikanischen Politik dringender an einer Beseitigung der Feindschaften des Kalten Kriegs interessiert sei als er« – und vom Papst eine Vorabkopie seiner Enzyklika Pacem in terris, in der das Oberhaupt der Katholiken für einen globalen Frieden warb, der »nicht auf einem Gleichgewicht der Waffen, sondern auf gegenseitigem Vertrauen beruht«. Von beiden durch den inoffiziellen Botschafter Cousins überbrachten Botschaften zeigte sich Chruschtschow sehr beeindruckt. Schon im Jahr zuvor, als der Papst während der Raketenkrise auf Kuba an beide Seiten appelliert hatte, zu einem friedlichen Kompromiss zu kommen, hatte er dafür gesorgt, dass dieser päpstliche Kommentar in der Prawda abgedruckt worden war.
Und dasselbe geschah nun mit der Rede Kennedys: Sie wurde in voller Länge in der sowjetischen Parteizeitung abgedruckt. Chruschtschow bezeichnete die Rede »als die großartigste eines amerikanischen Präsidenten seit Roosevelt«, und die Regierung ermöglichte dem ansonsten durch Störsender unterdrückten Radiosender Voice of America, sie in russischer Sprache ungekürzt in der gesamten Sowjetunion auszustrahlen. In einem Glückwunschtelegramm an Kennedy zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli betonten Chruschtschow und sein Stellvertreter Leonid Breschnew ihre Überzeugung, dass die Regierungen der beiden Länder ihre Spannungen beseitigen und im gegenseitigen Austausch »zu einem allgemeinen Frieden« kommen könnten.
[…]
Sehr ernst genommen wurde Kennedys Rede freilich da, wo man sich von dem Vorhaben einer »allgemeinen vollständigen Abrüstung« seiner Geschäftsgrundlage beraubt sah und von der Forderung einer Aussöhnung und friedlichen Koexistenz mit der Sowjetunion ins Mark getroffen fühlte: im militärisch-industriellen Komplex, bei der CIA und ihren exilkubanischen Paramilitärs. Wenn den Generälen und CIA-Oberen schon bei der Ankündigung des Verteidigungsministers McNamara, statt Kampftruppen nach Vietnam zu entsenden dort sogar die »Militärberater« abzuziehen, »die Kinnlade bis auf den Tisch gefallen war«, dann muss sie ihnen während Kennedys visionärem Ausblick auf eine entmilitarisierte Welt noch viel tiefer gefallen sein. Denn ihnen war klar, dass es sich hier nicht um die beliebige Schönwetterrede eines hergelaufenen Politikers handelte.
Dem Mann war es ernst. Der wollte die Welt verändern. Das war zu viel. Das konnten sie nicht zulassen. Und so war der 35. Präsident der USA zum Abschuss freigegeben.
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Zuletzt erschienen:
Mathias Bröckers: JFK -Staatsstreich in Amerika (Oktober 2023), 304 Seiten, 14 Euro