Vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine am 24. Februar wurden Ankündigungen einer “Invasion” von Seiten der USA und der westlichen Medien seit Mitte Januar regelmäßig verbreitet. Dass diese Meldungen nicht nur von Russland dementiert wurden, sondern auch die Regierung in Kiew bekundete, keinerlei Informationen darüber zu haben, war allerdings sehr merkwürdig – zumal US-Präsident Biden mit dem 16. Februar sogar schon ein Datum genannt hatte, an dem Putin – so das britische Fachblatt “Sun” – im “Hitler-Stil” Europa überfallen würde. Haben London oder Washington einen Superspion im Kreml, der nicht nur Putins Pläne kennt, sondern auch seine Termine? Man konnte in diesen Wochen fast den Eindruck bekommen, dass die Invasion geradezu herbei geschrieben wird, die russische Außenamts-Sprecherin Maria Sacharowa bat über Twitter bei den USA ironisch schon um Mitteilung, wann denn nun die nächsten Invasionen stattfinden würde, weil sie ihren Urlaub planen wolle.
Und dann kamen die Russen doch. Die Frage, ob sich der Superspion nur um acht Tage im Datum vertan hatte und die ganze Medienkampagne auf realen Informationen beruhte, lässt sich kaum beantworten. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang aber die Daten der OSZE über den Beschuss der Donbass-Region. Während in den Monaten zuvor an der Frontlinie kaum mehr als ein Dutzend Attacken pro Tag gemeldet wurden, nehmen sie just an dem von Biden genannten Datum massiv zu und steigern sich auf mehr als 1.400 Artillerie, -und Raketeneinschläge pro Tag. Dass die ukrainische Armee eine derartige Offensive ohne das OK der USA startet ist äußerst unwahrscheinlich – und tatsächlich erbeuteten und veröffentlichten die russischen Streitkräfte wenige Tage nach ihrem Einmarsch in einem eroberten
Stützpunkt der ukrainischen Armee dann die Einsatzpläne für einen groß angelegten Angriff auf das Donbass Anfang März, für den die Attacken ab Mitte Februar nur die Ouvertüre darstellten. Und eine massive Provokation, Russland endlich zum Eingreifen zu bringen. Auch wenn es noch gar keinen Schuss abgegeben hatte, wurde es in den Wochen zuvor schon als Aggressor formatiert – und obwohl nur Ukrainer gegen Ukrainer kämpften, schon das Narrativ “russischer Angriffskrieg” in die Welt gesetzt. Im Handbuch des “Training und Doctrine”-Kommandos der US-Armee heißt es zu solchen Operationen im Propagandakrieg:
“Mit der Unmittelbarkeit der globalen Kommunikation über IT nimmt die Bedeutung eines schnellen und glaubwürdigen Wahrnehmungsmanagements exponentiell zu. In der Vergangenheit konnten die beteiligten Akteure, wenn sich ein Ereignis nicht verbergen ließ, Informationen langsam und auf die von ihnen gewählte Weise preisgeben. Mit zunehmender Transparenz und der Ermächtigung der Akteure gewinnt nicht mehr derjenige, der seinen Fall am besten erklärt, sondern derjenige, der ihn zuerst erklärt. Die Fähigkeit, sich für ein Narrativ zu entscheiden und es rechtzeitig in die Öffentlichkeit zu bringen, ist von größter Bedeutung: Das zuerst präsentierte Narrativ wird als maßgebend angesehen, und diejenigen, die andere Ansichten vertreten, werden automatisch in die Defensive gedrängt – sie müssen hoffen, ihr Zielpublikum von der Richtigkeit ihrer Ansicht und der Falschheit der anderen zu überzeugen, während die Vertreter des ersten Narrativs keine solchen Schwierigkeiten haben. Dies hat starke Auswirkungen sowohl auf die politischen als auch auf die militärischen Variablen, da moderne Regierungen und Militärs in der Regel durch irgendeine Form der Genehmigungskette eingeschränkt sind, die ihre Fähigkeit, schnell auf Ereignisse zu reagieren, begrenzt, während ihre Gegner keine derartigen Einschränkungen haben.”
“Operational Environment to 2028: The Strategic Environment for Unified Land Operations,” (PDF) August 20, 2012, Training and Doctrine Command (TRACOC)-G2. Accessed online at https://www.benning.army.mil
So läuft es mit Psyops und Wahrnehmungsmanipulation: wer nach 9/11 und den Anthrax-Anschlägen zuerst “Saddam Hussein” ruft gewinnt, weil erst Jahre später bekannt wird, dass das Gift aus dem US-Fort Detrick kam. Es kommt nicht darauf an ob die Geschichte wahr oder falsch ist, ob sie gut oder schlecht erklärt wird, entscheidend ist, sie zuerst an die Öffentlichkeit zu bringen. So waren die Russen schon als “aggressiv” und “brutal” und Putin als “Hitler” markiert, bevor sie den ersten Schuss abgaben. Und wer auf die Vorgeschichte des “brutalen Überfalls” verwies – den gewaltsamen Maidan-Putsch und den achtjährigen Bürgerkrieg in der Ukraine mit 13.000 Toten im Donbass – automatisch in der Defensive.
So gewinnt man freilich nur den “Informationskrieg” und nicht den am Boden, der für die Ukraine weiter auf tragische Weise verloren geht. Dass jetzt einer der führenden Kriegstreiber, Britanniens Premier Boris Johnson zurücktritt, der Präsident Zelensky noch Anfang Mai drängte, weiter Kanonenfutter für die russische Artillerie zu liefern und auf keinen Fall zu verhandeln, ist nur ein schwacher Trost. Johnsons privaten Verfehlungen sind indes nur der oberflächliche Grund für seinen Fall, tatsächlich ist es der gescheiterte Brexit, der alle Probleme, die er lösen wollte, nur verschärft hat: Handelsunterbrechungen, Mangel an Arbeitskräften und Rohstoffen, 9 Prozent Inflation mit steigender Tendenz plus nunmehr – dank der Johnson von massiv propagierten Sanktionspolitik – explodierende Energiepreise. Wegen des Brexit-Chaos ist von Johnson aber wahrscheinlich nur der erste, der zum Opfer des Wirtschaftskriegs mit Russland wird, in anderen europäischen Ländern knistert es ebenfalls heftig, der Euro ist auf Talfahrt und Deutschland hat zum ersten Mal seit 1991 eine negative Außenhandelsbilanz. Das Geschäftsmodell des ehemaligen Exportweltmeisters, mit billiger Energie aus Russland konkurrenzfähige Produkte für den Weltmarkt zu liefern, ist am Ende. Wenn Olaf Scholz jetzt Kritiker, die die Weisheit und Effizienz der Sanktionen bezweifeln, schon als “Handlanger” Russlands bezeichnen muss und sein Vize Habeck im russischen Sanktions-Roulette lieber nochmal nachladen will, statt den Irrsinn endlich einzusehen…dann stehen die beiden als Kandidaten für die Nachfolge Johnsons auf der Abgangsliste ziemlich weit oben. Kühle Prognose: wenn sie Nordstream 2 nicht einschalten, überlebt ihre Regierung nicht einmal den Herbst.
Auch wenn im Wahrnehmungsmanagement eines Ereignisses das erste Narrativ maßgebend ist und es nicht darauf ankommt, ob es das “beste” – also wahr und richtig – ist, sondern nur darauf, dass es zuerst und massiv präsentiert wird, wenn dann die realen Ereignisse dieser Erzählung zuwiderlaufen, ist sie immer schwerer haltbar. Und wenn die Falschheit offensichtlich wird, haben ihre Vertreter ein Problem; sie müssten Irrtümer, Fehler, Versagen einräumen und eine 180-Grad-Wende vollziehen. Der grüne Minister Habeck, unter dem die “Energiewende” jetzt mit Kohlekraftwerken und neuerdings EU-weit “nachhaltigen” AKWs vollzogen werden soll, müsste etwa eingestehen, dass er sich “in dienender Führungsrolle” zum “Handlanger” Washingtons hat machen lassen und irrtümlich davon ausgegangen sei, dass die geopolitische Strategie der USA, Russland mit Sanktionen in die Knie zu zwingen und mit Waffenlieferungen an die Ukraine den Krieg zu gewinnen, erfolgversprechend ist. Da aber nach über vier Monaten nun immer klarer wird, dass dieser Plan scheitert und die Verlierer nicht Russland und Putin heißen, sondern Deutschland und Europa, habe er sich, “um weiteren Schaden von unseren Bürgerinnen und Bürgern abzuwenden”, entschlossen…. (siehe oben)
Noch ist Dr.Habeck von derlei Geständnissen ziemlich entfernt und muss wenn es um die Ursache der Krise geht, in jedem zweiten Satz mit dem Stinkefinger auf “Putin” zeigen. So auch jetzt wieder, als er in Kanada um einen Verstoß gegen die Sanktionen und die Auslieferung einer dort überholten Siemens-Turbine für “Nordstream 1” betteln musste. Als Gazprom vor einigen Wochen die Lieferungen wegen der aufgrund der Sanktionen ausbleibenden Turbine um 40% reduzierte, hatte Habeck noch von Lügen und Tricks der Russen gesprochen, nun muss er in Kanada drängeln “Putin die Turbinenausrede” zu nehmen, weil ihm sonst seine “Putinausrede” flöten geht und die eigene Sanktionsidiotie auf die Füsse fällt.
(wird fortgesetzt)
Alle bisher erschienen “Notizen” hier
Das Buch über die Geschichte und Hintergründe des Ukraine-Kriegs:
Mathias Bröckers/Paul Schreyer: Wir sind IMMER die Guten – Ansichten eines Putinverstehers oder wie der kalte Krieg neu entfacht wird, Westend Verlag (2019)











